Kara Ben Nemsi auf dem Domberg
Ein Freisinger Priesterschüler prägt die Sprache von Karl May

Old Shatterhand, Winnetou und Kara Ben Nemsi auf dem Freisinger Domberg? Ja, und zwar in den Träumen des jungen Franz Kandolf, der 1902 dort auf das Gymnasium ging und sich ins ferne Amerika und in den Orient der Karl May-Erzählungen träumte. Dass sich Franz Kandolf nämlich bereits in Freising mit dem Autor und seinen magischen Geschichten auseinandergesetzt hat, ist naheliegend, denn bereits 5 Jahre später schickte er von Freising aus postalische Geburtstagsgrüße an Karl May – vermutlich die einzige Glückwunschkarte, die Karl May jemals aus der Domstadt erreicht hat. Was allerdings die wenigsten Leser wissen dürften: Der ehemalige Dom-Gymnasiast und Priesterschüler trug Jahre später mit seinen Bearbeitungen der berühmten Karl May-Romane deutlich zu dem unglaublichen Erfolg der grünen Buchreihe bei. Oder wie es der Kandolf- und May-Experte Ludwig Stimpfle formuliert: „Wer May liest, liest eigentlich Kandolf!“

Franz Kandolf, ein Bub aus ärmlichen Verhältnissen, 1886 in Haidhausen geboren, fiel durch sehr gute schulische Leistungen bereits früh auf und wurde deshalb auf ein Gymnasium geschickt. Für begabte Kinder gab es damals vor allem zwei attraktive Möglichkeiten: Lehrer oder Pfarrer werden – was auch für Karl May, der ja Lehramt studiert hat, galt. Vom Wilhelms-Gymnasium im Münchner Lehel ging es dann zügig ins Erzbischöfliche Knabenseminar nach Scheyern und schließlich 1902 ins Erzbischöfliche Knabenseminar nach Freising, das in Verbindung mit dem humanistischen Dom-Gymnasium stand und über einen Internats-Bereich verfügte. 1906 bestand Franz Kandolf in Freising sein Abitur, kurioserweise mit dem Vermerk, dass er in der deutschen Sprache „einiges zu wünschen übrig lassen würde“, wie Ludwig Stimpfle recherchieren konnte. Dass sich Franz Kandolf zu dieser Zeit auch weiter ausgiebig mit Karl May beschäftigt haben muss, zeigt sich in seinem Drang, dem Winnetou-Schöpfer schriftlich zum Geburtstag zu gratulieren. Überraschenderweise hat Karl May sogar zurückgeschrieben und damit vielleicht sogar den Grundstein gelegt für Franz Kandolfs ungebrochene Affinität zu jenen Romanen, die Generationen geprägt haben. Oder anders gesagt: Gut möglich, dass der Freisinger Briefverkehr dazu beigetragen hat, wie wir Karl Mays literarische Stimme wahrnehmen.
Ludwig Stimpfle weiß: Die Literatur per se hat den Domschüler stark umgetrieben, darunter auch die Werke von Jules Verne. „Er hätte eigentlich Literaturwissenschaftler werden müssen“, so die Einschätzung des Kandolf-Experten. Auch deshalb ließ Franz Kandolf das Studium und die Weihe zum Priester 1911 in Freising eher über sich ergehen, als mit Freude dabei zu sein – und auch später strebte er nicht nach hohen Ämtern, sondern blieb 20 Jahre lang nur ein einfacher Kaplan. Ein Kaplan, der sich stattdessen immer mehr dem Mamut-Werk von Karl May widmete und sich durch fundierte und zahlreiche Beiträge in den Karl-May-Jahresbüchern mit dem Schaffen des Autors auseinandersetze. Dabei allerdings blieb es nicht, denn in Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Eigentümer des Karl-May-Verlages, Euchar Albrecht Schmid, nahm Franz Kandolf schon bald tiefgreifende Änderungen in den Werken von Karl May vor. Warum? Ziel war es, mit einem moderneren Ton und Kürzungen mehr Leser ansprechen zu können – was schließlich dann auch gelang, wenngleich natürlich der Klang des Original-Manuskripts dadurch deutlich verändert wurde. Gleichzeitig schien der Verlag auch auf das kreative Schreibtalent des Geistlichen zu setzen, denn dieser durfte Karl Mays unvollendete Reise-Geschichte „Im Jenseits“ unter dem Titel „In Mekka“ fertigschreiben und publizieren. „In Mekka“ wurde letztendlich äußerst erfolgreich als „Jubiläums-Nummer“ 50 in die bekannte grüne Reihe aufgenommen – sogar unter dem Namen von Franz Kandolf. Und auch das war lange Zeit unbekannt: Der Kaplan reiste gern und oft an die Schauplätze der Karl May-Erzählungen.
Wenngleich die sprachlichen Veränderungen stark in das Werk eingriffen, gelten bis heute andere Bearbeitungen noch mehr umstritten als die stilistischen Glättungen. So verwandelte der ehemalige Freisinger Student beispielsweise einige Figuren im Roman „Tal des Todes“ zu bekannten Protagonisten – aus einem Apachen wurde im Handumdrehen Winnetou höchstpersönlich. Franz Kandolf wurde aufgrund des hohen Engagements über die Jahre zu einem überaus regen Mitarbeiter des Verlages, der beispielsweise in den 1930iger Jahren die May-Pastiche „Die Söhne des Scheiks“ schrieb, das inhaltlich an die Bände 2 und 3 der Gesamtausgabe anknüpfte. Heutzutage gibt es allerdings auch historisch-kritische May-Ausgaben, in denen der Original-Text nachgelesen werden kann, wie Ludwig Stimpfle betont. Beleuchtet und gewürdigt, wenngleich auch spät, wird Franz Kandolf auch in dem Sachbuch „Karl May und München“ (2022), zudem werden immer wieder Ausstellungen zu diesem Thema angeboten. Gestorben ist Franz Kandolf 1949 in München, wo er bis zu seinem Lebensende als Geistlicher in dem Seniorenheim „Gaststeig Spital“ tätig war. Er wurde 62 Jahre alt. Karl May starb 1912, sein Oeuvre umfasst 70 Bücher, die weltweit über 200 Millionen Mal verkauft wurden.
(Text: Richard Lorenz, Abbildung: Karl May-Verlag Bamberg Radebeul)

Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom Februar 2022.
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