Freising kann einen alpinen Superlativ für sich beanspruchen. Denn über fünf Jahrhunderte gehörte der heute höchste Gipfel Bayerns, ja der Bundesrepublik, zum Hochstiftsterritorium der Freisinger Fürstbischöfe (Grafschaft Werdenfels). Unausgesprochen hatten sie den Berg mit erworben, als sie im 13. Jahrhundert erst das Gebiet um Garmisch, dann die Grafschaften Partenkirchen und Mittenwald von Adeligen kauften. 1802, bei der Säkularisation allerdings, nahmen die Bayern dem ehemals reichsunmittelbaren Kleinstaat nicht nur den Berg weg. Sie sollten sich später auch noch in die Annalen schreiben, dass ihn einer der ihren zum ersten Mal bestiegen habe. Doch mit diesem Superlativ ist es nun eine verzwickte Sache. Denn der vermeintliche bayerische Erstbesteiger, der Vermessungsingenieur Joseph Naus, war eigentlich gar kein Bayer. Er hatte 1793 in Reutte in Tirol das Licht der Welt erblickt. Im April 1813 war er in die bayerische Armee eingetreten – zu einem Zeitpunkt, als Tirol infolge des bayerisch- französischen Bündnisses und der militärischen Niederlagen Österreichs zu Bayern gehörte. Anteil an der Ehre muss außerdem seinen Begleitern gelten: seinem Bediensteten Maier (von dem kein Vorname bekannt ist) und einem Werdenfelser, dem bergerfahrenen und ortskundigen Georg Tauschl aus Partenkirchen.
Doch davon abgesehen hatte die Gipfelbesteigung des Vermessungsingenieurs Naus zu seiner Zeit offensichtlich nur wenig Aufsehen erregt. Bereits 1835 schien sie sogar in Vergessenheit geraten zu sein, denn Zeitungen diskutierten nun, welcher von zwei Expeditionen im Herbst des Vorjahres der Ruhm der Erstbesteigung gelten sollte. Von Naus war nicht die Rede. Vieles spricht dafür, dass der Gipfelsturm des 1871 gestorbenen Vermessers erst durch den Eintrag in seinem Tagebuch posthum wieder ins Gedächtnis gerufen wurde.
Wenn Naus’ Gipfelbesteigung im Jahr 1820 so wenig Widerhall gefunden hatte, liegt es dann nicht nahe, dass vor ihm schon andere auf der Zugspitze gestanden haben könnten, ohne dass es für großen Wirbel sorgte? Am Ende könnte dem tirolerischen Bayer Naus also vielleicht sogar ein Freisinger Hochstiftsuntertan den Rang als Erstbesteiger ablaufen. Eine undatierte Karte aus dem 18. Jahrhundert beflügelt schon seit langem die Phantasievorstellungen.
Sie zeigt das Gebiet vom Reintaler Hof bis hinauf zum „Zugspitz“, wo heute der einfachste Aufstieg auf den Gipfel verläuft. Am Zugspitzplatt gabelt sich in der historischen Darstellung der Weg in zwei gestrichelte Linien. Eine führt als „Gangsteig“ zum Gatterl, dem etwa 2000 Meter hoch gelegenen Übergang auf die Tiroler Seite des Wettersteinkamms. Die andere ist unbeschriftet und weist zum Gipfel der Zugspitze. Dazu scheint die Legende zu passen: „übers blath ufn zugspitz – 4 stundt“. Wenn da nicht die Unklarheiten wären. Die Angabe von vier Stunden lässt sich bestenfalls als eine deutlich zu gering ausgefallene Schätzung für die Gehzeit auf den Gipfel verstehen. Heute werden (bei ausgebauten Wegen) fünf bis sechs Stunden veranschlagt! Und kann man mit Sicherheit sagen, dass die Strichellinie einen Steig darstellen soll? Die Karte bleibt rätselhaft.
In den von der Freisinger Hochstiftsverwaltung hinterlassenen Dokumenten wird allerdings schnell deutlich, dass sich die Menschen rund um das Wettersteingebirge schon früh unaufgeregt und mit Selbstverständlichkeit in ihren Bergen bewegten. Ab dem 14. Jahrhundert treten die Almen ins Licht der Geschichte. In einer 1430 angefertigten Beschreibung des Tiroler Wildbanns dienten markante Punkte des Wettersteingrates dazu, die Hoheitsgebiete über Wild und Wald zu scheiden. 1536 beschrieb der Freisinger Domvikar Matthias Hinterer die Grafschaftsgrenze, indem er sich gedanklich entlang der Gebirgszüge hangelte. Dort, wo die Zugspitze Werdenfels und Tirol schied, sprach er von einer „Schartten“ – im 17. Jahrhundert fügte jemand den Randvermerk „jezt Zugspüz genant“ hinzu. Erst 1590 war der Name ‚Zugspitz’ überhaupt zum ersten Mal in den Quellen aufgetaucht.
Seit Tirol und Freising die gemeinsame Grenze im Wettersteingebirge genauer fixierten, war die Zugspitze als Grenzpunkt unverzichtbar. Auch, wenn man sich anfangs noch nicht über den Gipfel einig war. So gerieten im August 1616 Vertreter Tirols und des Hochstifts „bey der Scharten, so sonsten der Zugspiz genant wird“ über die Frage in Streit, „welche schartten man meinete“. Erst 1656 gelang es einer bilateralen Kommission, sich zu verständigen. An der Riffelwand, in der Nähe der heutigen Zugspitzbahn-Haltestelle Riffelriss, schlugen die Beamten ein Grenzzeichen ein. Es existiert noch und gilt bis heute, jetzt freilich als Grenzzeichen zwischen Deutschland und Österreich.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts taucht in den schriftlichen Quellen plötzlich auch die Frage auf, ob die Zugspitze besteigbar sei. Es war die Zeit, als Gipfelstürme zu gesellschaftlich interessanten Ereignissen zu werden begannen. Allmählich entdeckten aufgeklärte Wissenschaftler sowie Künstler das Gebirge, viel später dann auch Touristen.
1760 schrieb ein Naturforscher eine Belohnung für die Bezwingung des Mont Blanc aus, die 1786 gelingen sollte. Klein- und Großglockner wurden 1799 und 1800 in vielbeachteten Expeditionen erklommen. Noch vor diesen Großtaten, am 2. Oktober 1759, stand der Freisinger Hofkanzler Joseph von Sedlmayr anlässlich einer Grenzbesichtigung zusammen mit dem werdenfelsischen Gerichtsschreiber, dem Pfleggerichtsamtmann, einigen Grafschaftsjägern und Partenkirchner Bürgern – darunter Marktrichter und Marktschreiber – am Reintalanger und blickte gen Westen, Richtung Talschluss und Zugspitzmassiv. Zuhause notierte er in seinem Protokoll: „Der sogenante Zugspiz ist das höchste gebürgt auf welches mann auch steigen und die ganze refier nicht nur in Bajern sondern auch das ganze Tyroller gebürg ybersehen kann“.
Hatten die Einheimischen dem Freisinger Beamten diese Einschätzung aufgrund ihrer Erfahrung vermittelt? 1768 setzte eine achtzigköpfige Delegation aus Freisinger und Tiroler Beamten und Untertanen Grenzzeichen auf dem Zugspitzplatt, am Fuß des Schneeferners und am Gatterl. Einer der Teilnehmer war der Freisinger Hofrat Ferdinand Wilhelm Freiherr von Bugniet des Croisettes. Er berichtet in seiner Geschichte der Grafschaft Werdenfels, dass man versucht habe, über den Gletscher zum Gipfel der Zugspitze vorzudringen. Es sei aber trotz des schönsten Sommerwetters „vor Kälte und Todsgefahr ohnmöglich“ gewesen. Im Sommer 1801 stellte dagegen der werdenfelsische Pflegsverwalter dem Tegernseer Klosterjäger Jakob Mair ein Attest aus, wonach die Zugspitze „steigbar“ sei, allerdings „nur für sehr geübte Steiger“. Eine bayerische Vermessungskommission hatte den Jäger damit beauftragt, im Wettersteingebirge eine „Pyramide“ als Peilpunkt für die Kartierungsarbeiten zu errichten – Mair war aber offensichtlich vor der Aufgabe zurückgeschreckt.
Spätere Alpingeschichtsschreiber wie etwa der 1984 gestorbene, österreichische Bergsteiger Toni Hiebeler gefielen sich darin, die werdenfelsischen Einheimischen als ängstliche, naive und rückständige Bergbewohner zu charakterisieren, die sich vor dem „bösartigen Zuggeist“ gefürchtet hätten, der den Gipfel argwöhnisch bewacht habe. Doch „the dangerous Zuggeist“, wie er in einer englischsprachigen Tourismusbroschüre über die Zugspitze aus der Mitte der 1980er Jahre heißt, könnte ein Phantasieprodukt moderner Zeiten sein. Dass ihn bereits die Menschen in fürstbischöflicher Zeit kannten, müsste jedenfalls erst noch bewiesen werden.
Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom September 2011.
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