“Eine begehrenswerte Wohnung für Bücher”
Wie Thomas Frognall Dibdin 1818 die Freisinger Dombibliothek entdeckte

Die Deutschen gelten heute als die Weltmeister des Reisens. Erfunden wurde der Tourismus jedoch von den Briten. Sie unternahmen bereits im 18. Jahrhundert ausgedehnte Bildungsfahrten in alle Regionen der Welt und kehrten mit unauslöschlichen Eindrücken auf die britischen Inseln zurück.

Ein prominenter englischer Bildungsreisender des frühen 19. Jahrhunderts war der Bibliothekswissenschaftler Thomas Frognall Dibdin. Der anglikanische Geistliche bereiste 1818 im Auftrag von George John Earl of Spencer, einem Vorfahren der unvergessenen Prinzessin Diana, neun Monate Frankreich und Deutschland. Dort sollte Dibdin Bücher für Spencers umfangreiche Bibliothek einkaufen. Aus der Shopping-Tour wurde eine Bildungsfahrt, denn Dibdin besichtigte bei jeder sich bietenden Gelegenheit interessante Bibliotheken.

Am 23. August 1818 kam der britische Bücherfreund mit zwei Reisegefährten nach Freising. Dort betrieb Joseph Mozler ein gepflegtes, europaweit renommiertes Antiquariat. Lorenz von Westenrieder, Johann Michael Sailer, Friedrich Carl von Savigny, Clemens Brentano und viele andere mehr bestellten in Freising bei Mozler ihre Bücher. Teile der Geschäftskorrespondenz Joseph Mozlers mit wichtigen Vertretern des gelehrten Deutschlands zwischen Aufklärung und Romantik haben sich bis heute in Berlin, Frankfurt, Heidelberg sowie Leipzig erhalten.

Nachdem Dibdin im Gasthof zum Hirschen, dem heutigen Pano, für den Abend ein Souper geordert hatte, begab er sich mit seinen Begleitern, dem Zeichner Lewis und einem namenlosen Diener zum Mozlerschen Buchantiquariat. Der Laden befand sich gleich gegenüber dem Gasthaus in der Oberen Hauptstraße. Das Haus trägt heute die Nummer 15. Enttäuscht erfuhr Dibdin, dass Joseph Mozler ein knappes Jahr zuvor verstorben war. Sein Bruder Ignaz befand sich zudem auf Geschäftsreise und dessen Schwester Anna Maria Mozler, die laut Dibdin der französischen Sprache völlig unkundig war, konnte den Gästen aus England zunächst nicht weiterhelfen.

So verließ die Reisegesellschaft unverrichteter Dinge das Antiquariat und erklomm den Freisinger Domberg. Dort war man zu einer Führung angemeldet. Münchner Freunde hatten nämlich dringend zu einer Besichtigung des Domes und seiner romanischen Krypta geraten. Mit einem Gästeführer stieg die Gruppe in die Domgruft hinab, die bei den britischen Besuchern große Begeisterung hervorrief: „Die Krypta jedoch übertraf alle Erwartungen. Ich würde nicht zögern, sie als vollkommen einzigartig zu bezeichnen, da ich weder etwas gesehen noch gehört oder gelesen habe, das ihr auch nur im Geringsten ähnelt.“, schrieb Dibdin in seinen Reiseerinnerungen.  Von den Tiefen der Krypta ging es hinauf in den Südturm, wo die große Korbiniansglocke die Besucher in Erstaunen versetzte.

Nachdem sich Dibdins Begleiter zu einem Spaziergang durch die Stadt verabschiedet hatten, erreichte der bibliophile Brite den Höhepunkt seines Dombergrundganges: Erwartungsvoll betrat er den Barocksaal der Freisinger Dombibliothek. Als „Relikt einer Bibliothek“ und „Schatten eines Schattens“ hatte in fragilem Französisch der Führer den Büchersaal über dem Kreuzgang zuvor angekündigt. Zu viel sei wegen der Säkularisation vor 15 Jahren nach München abtransportiert worden. Doch Dibdin bot sich ein anderes Bild: Ihn empfing ein in seinen Beständen zwar dezimierter, jedoch keineswegs leer geräumter Bibliotheksraum. Weiß gebundene Bände zu Themen der Theologie und der Philosophie zierten neben zahlreichen Bibeln den hellen, fröhlichen Bibliothekssaal. „Ich wüsste nicht, dass ich seit meiner Abreise aus England eine begehrenswertere Wohnung für Bücher aufgesucht hätte“, notierte Thomas Dibdin beeindruckt in sein Reisetagebuch. Dieser Kommentar beweist: Die Freisinger Dombibliothek wurde 1803 mitnichten geplündert, sondern hatte sich in der Zeit zwischen dem Untergang des alten Bistums Freising und der Gründung der neuen Erzdiözese zumindest teilweise erhalten.

Auf dem Rückweg zum Gasthaus schaute Thomas Dibdin noch einmal in Mozlers Antiquariat vorbei. Erschlagen vom Chaos in den Verkaufsräumen, aber auch von der Qualität des Sortiments konnte er sich nicht zum Kauf entschließen. Zudem überfiel eine Hungerattacke den weit gereisten Gelehrten. Unverzüglich begab er sich deshalb in den Gasthof, wo er genussvoll Koteletts aß und dazu Wein genoss. „Der Rotwein war, so glaube ich, der köstlichste, den ich in Deutschland getrunken hatte“, erinnerte sich Dibdin später in seinem Reisebericht, der 1821 unter dem Titel „A bibliographical, antiquarian and picturesque tour in France and Germany“ als Buch erschienen ist. Gut gelaunt und voller angenehmer Eindrücke der alten Bischofsstadt Freising brachen Thomas Dibdin und seine Begleiter gegen 18 Uhr in Richtung Moosburg auf.

Vorzüglich speisen und köstlichen Wein genießen, das ist auch heute noch in Freising möglich.

Aber wo findet man gegenwärtig auf dem Domberg eine „begehrenswerte Wohnung für Bücher“?

Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom Juni 2021.
In unserer Bibliothek können Sie diese und alle anderen Ausgaben der letzten Jahre online lesen.

zur Bibliothek...
weitere Artikel zu diesem Thema: