Zwei Wallfahrten und zwei Kirchen, zwar rund 100 Kilometer voneinander entfernt, jedoch beide zur selben Zeit, um die Mitte des 18. Jahrhunderts, aus demselben kulturellen, nämlich katholisch-volksfrömmigen Umkreis hervorgegangen, und mit demselben Patrozinium und demselben Namen versehen – die Vermutung, dass es hier eine Verbindungslinie gibt, liegt nahe. Tatsächlich muss man die Freisinger Wieskirche als einen kleinen, aber nicht weniger traditionsreichen Ableger der „großen“ Wieskirche bei Steingaden bezeichnen. Wer sich mit der Freisinger Wieskirche auseinandersetzen möchte, der muss also zunächst den Blick nach Steingaden richten. Das wollen wir im Folgenden tun, um dann einige Schlaglichter auf die Geschichte der Freisinger Wies zu werfen.
Entstehung der Wallfahrt und der Kirche in Freising
In den Jahren 1732 bis 1734 wurde bei der Steingadener Karfreitagsprozession eine Holzfigur des gegeißelten Jesus Christus verwendet, die jedoch aufgrund ästhetischer Mängel bereits 1735 wieder ausrangiert und eingelagert wurde. Drei Jahre später, 1738, gelangte die Figur in den Besitz des Martin Lori, Bauer auf dem sogenannten Wiesenhof einige Kilometer südöstlich von Steingaden. Nach wenigen Wochen will Maria Lori, seine Frau, beobachtet haben, wie der Figur Tränen über die Wangen geflossen sind. Die Meldung dieses Wundergeschehens löste beim Prämonstratenserkloster Steingaden, in dessen Besitz sich der Wiesenhof befand, zunächst noch keine Aktivität aus. Nachdem der Zustrom der Bevölkerung zur Figur des gegeißelten Heilands, für die Martin Lori inzwischen eine kleine hölzerne Kapelle unweit seines Hofes errichten hatte lassen, stets größer geworden war, wurde 1744 seitens der geistlichen Regierung in Augsburg die dauerhafte Einrichtung einer Wallfahrt genehmigt und seitens des Steingadener Abtes schließlich ein größerer Kirchenbau beschlossen. Planung, Bau und Ausstattung dieses grandiosen, von 1745 bis 1754 errichteten Kirchenbaus lagen in den Händen der Brüder Johann Baptist und Dominikus Zimmermann.
Einer der vielen Wallfahrer, die sich von weither zur Figur des gegeißelten Heilands beim Wiesenhof auf den Weg machten, war der Freisinger Sylvester Hupf, von Beruf Forstaufseher in den Wäldern des Freisinger Domkapitels. Irgendwann zu Beginn der 1740er Jahre befestigte er ein Bild des Steingadener Heilands, das er nach einer Kupferstich-Vorlage vom Freisinger Hofmaler Johann Jeger hatte fertigen lassen, an einem Baum neben der Landstraße, die von Freising nach Mainburg bzw. Regensburg führt (heutige B 301). Von der Popularität der Steingadener Figur beeinflusst etablierte sich auch hier eine rege Wallfahrt. Diese hatte jedoch nicht nur Anhänger: Der Pfarrvikar zu St. Georg, Joseph Krimmer, erwies sich als hartnäckiger Gegner der neuen Wallfahrt im Nordosten seines Pfarrsprengels. Die Gründe lagen auf der Hand, es ging ihm vornehmlich um den Verlust an freiwilligen Gaben für St. Georg. Die Spitze der Auseinandersetzung wurde Ende 1746 erreicht, als Krimmer das Gnadenbild abnehmen und in der Stadtpfarrkirche aufhängen ließ. Das Freisinger Domkapitel, dem die Pfarrei St. Georg inkorporiert war und das der neuen Wallfahrt insgesamt eher positiv gegenüberstand, ordnete kurz darauf an, das Bild wieder in den Wald zurückzubringen. Wiederum dem Vorbild bei Steingaden ganz ähnlich hatte man auch das Freisinger Gnadenbild relativ bald, 1746, in eine eigens errichtete Holzkapelle, die in unmittelbarer Nähe aufgeführt worden war, transferiert. Aufgrund der anhaltenden Popularität auch der Freisinger Wieswallfahrt war der Bau einer steinernen und ästhetisch ansprechenden Kapelle in den Jahren 1747/48 nur konsequent.
Der Kirchenbau (1747/48 und 1759/61)
Bis heute ist – sowohl am Außenbau wie im Inneren – die besondere, in unterschiedlichen Phasen verlaufende Baugeschichte der Freisinger Wieskirche ablesbar. Anstelle des hölzernen Provisoriums wurde 1747/48 ein vornehmer, querelliptischer Bau aufgeführt, der heute den Chorraum der Kirche bildet. Die Pläne zu diesem filigranen Bau, den der Kunsthistoriker Sigmund Benker nicht ganz zu Unrecht als „ein bisher unbeachtetes Hauptwerk der malerischen Architektur des Rokoko“ bezeichnet, stammen sehr wahrscheinlich von der Hand des damaligen Freisinger Hofmaurermeisters Johann Lorenz Hierschstötter. Er ist der Architekt beispielsweise der Freisinger Dombibliothek oder des „Ziererhauses“ am Rindermarkt. Der rege Zuspruch zur Freisinger Wieswallfahrt machte wenige Jahre später eine Erweiterung der Kapelle erforderlich. Von 1759 bis 1761 wurde vor den bestehenden Bau ein Langhaus in vergleichsweise schlichten Formen gesetzt. In seinem Äußeren weist es eine weit weniger aufwändige Gestaltung auf als der querelliptische Kapellenbau. Während die Kuppelfresken von zwei unbekannten, mittelmäßigen Malern gefertigt worden waren, konnte man für die Ausmalung des Langhausgewölbes (1761) den Landshuter Maler Franz Xaver Wunderer gewinnen. Zwischen 1756 und 1759 wurden die drei Altäre, der Hochaltar mit dem Gnadenbild sowie zwei Seitenaltäre, errichtet. Sie gehen in ihrem Entwurf zurück auf den Münchner Hofmaler Philipp Jakob Greill. Im Mai 1764, vor 250 Jahren, wurden die neuen Altäre der Wieskirche geweiht.
Die Freisinger Wies im 19. und 20. Jahrhundert
Große Veränderungen ergaben sich für die Wieswallfahrt und die Wieskirche mit der Säkularisation von 1802/03 und in diesem Zusammenhang insbesondere mit der Auflösung des Freisinger Domkapitels, das bisher als vorgesetzte Institution fungiert hatte. Die geistliche Aufsicht wurde nun zunächst der Stadtpfarrei St. Georg, ab 1831 dem Freisinger Klerikalseminar übertragen. Das Grundproblem des Unterhaltes der Wieskirche ergab sich in erster Linie aus deren schlechter finanzieller Ausstattung. Eine Stabilisierung der geistlichen wie vor allem der ökonomischen Verhältnisse trat mit dem Priester Mathias Ertle ein, der von 1846 bis 1882 das Amt des Wiesseelsorgers bzw. ab 1852 des Wieskurates ausübte. Ertle baute eine eigene Landwirtschaft auf und erwarb zudem unzählige Grundstücke; bei seinem Tod 1882 umfasste die Landwirtschaft der Wieskuratie rund 60 Tagwerk Grund. Die Begründung einer eigenen Wallfahrtspriesterstiftung 1851/52 bedeutete wiederum eine finanziell abgesicherte Stellung für den Wiesseelsorger, der weitgehend unabhängig agieren konnte. Mathias Ertle nahm auch einschneidende bauliche Maßnahmen vor: So wurden während seiner Amtszeit das Priester- und das Mesnerhaus neu errichtet, außerdem über dem diese beiden Häuser miteinander verbindenden Gang hinter der Kirche ein Glockenturm aufgesetzt. Die Zerstörung der Rokokoaltäre und die Errichtung spätklassizistischer Ersatzaltäre 1847/48 gehen ebenfalls auf die Initiative Ertles zurück.
Eine neue Phase in der Geschichte der Wieskirche und der Wieswallfahrt begann im Jahr 1903: Die Wies wurde dem Orden der Augustiner-Eremiten übertragen. Deren Aufgabe bestand – wie zuvor bei den Kuraten – in der Seelsorge und Wallfahrerbetreuung vor Ort, ferner in der Seelsorge verschiedener Bildungseinrichtungen auf dem Domberg. Um die einem Kloster entsprechenden baulichen Zustände zu schaffen, wurde im Jahr 1904 ein in historistisch-neobarocken Formen gestalteter Erweiterungsbau nach Osten angefügt, der vor allem die Mönchszellen und verschiedene Gemeinschaftsräume aufnehmen konnte.1954 gaben die Augustiner-Eremiten den Standort Wies wieder auf, vor allem aufgrund fehlenden Nachwuchses. Seit dieser Zeit fungieren wiederum Ruhestandspriester als Wieskuraten, seit 1995 der frühere Stadtpfarrer von St. Georg in Freising, Dr. Walter Brugger. Die Wieskuraten, einschließlich einer großen Zahl an Helfern, sind es heute, die den traditionsreichen Ort lebendig halten.
Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom Januar 2015.
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