Seit 30 Jahren wird in der „Offenen Werkstatt Radierung“ in der Volkshochschule auf mannigfaltige Art experimentiert, getüftelt und produziert. Nun sind die „Drucksachen“ der aktuellen sieben Druckgrafiker in einer umfangreichen Ausstellung zu sehen. Die Bandbreite reicht von realistischen Wiedergaben der nächsten Umgebung über abstrahierte Impressionen aus aller Welt bis zu vollkommen ungegenständlichen Kompositionen.
Sieh, das Gute liegt so nah, scheint Johann Rottmeier mit seinen ebenso realistischen wie detailgenauen Ansichten von Alt-Freising sagen zu wollen. Mit seinen lichtdurchfluteten Stimmungsbildern fängt er eine heile Welt im Wechsel der Jahreszeiten ein. Den sommerlichen Veduten verhilft mit Aquarell-Colorierungen in Gelb, Rot und Blau zu einem flirrenden Licht, wohingegen die Winterstimmungen naturgemäß vergleichsweise blass erscheinen. Peter Reimers, der von sich selbst sagt, er sammle Eindrücke, konzentriert sich in seinen realistischen Darstellungen dagegen ganz auf einen starken hell-dunkel-Kontrast, mit dem er Lebendigkeit in seine Szenerien aus Salzburg und der Provence bringt.
Interessanterweise verwendet er statt Chemie Zuckertusche, um damit die Bereiche aufzuzeichnen, an denen später geätzt wird. Katharina Oehmichen reiste in die Toskana und nach Griechenland, um sich von den dortigen Städten und Landschaften inspirieren zu lassen. Allerdings abstrahiert sie die Realität in der Art, dass sie zu fließenden Kompositionen gelangt. Diese Vorliebe für dynamische Bewegungen kennzeichnet mehr noch ihre Musiker, die sie mit der Kaltnadel auf Kunststofffolien zum Leben erweckt. Damit korrespondieren die Maori-Tänzer aus der Feder von Christine Schielein ganz vortrefflich. Überhaupt hat sie sich ganz Neuseeland und dessen Kultur verschrieben. So zeigt sie einen Maoi, den Gott der Maori, und bezieht sich auf die typische Ornamentik, die in ihrer mäanderartigen Anlage an den unendlichen Lauf des Lebens erinnert. Diese Idee spiegelt zusätzlich die Darstellung einer Brückenechse, die es nur in Neuseeland gibt und als lebendes Fossil gilt.
Zwar basieren auch die klassischen Kaltnadelradierungen auf Zinkplatten von Gabriele Abs auf der Realität, jedoch sind ihre Landschaften schon so weit abstrahiert und verfremdet, dass die daraus resultierenden Wechselwirkungen zwischen Linien, Flächen und Bewegungen ganz in den Vordergrund treten. Das daraus abzulesende malerische Grundverständnis wird von Akzentuierungen mit jeweils nur einer zarten Farbe deutlich unterstrichen. Die Landschaften der experimentierfreudigen Gabriele Murr dagegen sind restlos ungegenständliche Bildlandschaften, deren Höhen und Tiefen auf Kleberspuren und Reliefpasten beruhen. Zudem druckt sie bevorzugt auf strukturierte Papiere, wie beispielsweise faserhaltige Seidenpapiere. Diese flächig angelegten Kompositionen dienen ihr quasi als Bett für ihre kalligraphisch eingefügten, nachdenklich stimmenden Sätze. Beeindruckender Weise erwirkt sie mit diesen wenigen Mitteln Bilder voller Poesie und Fragilität (siehe Abbildung). Auch Anna-Katharina Rath, die Werkstattleiterin, konzentriert sich auf das Informell. Ihr großes Thema ist schon seit Jahren die Balance, und zwar in allen erdenklichen Lebenslagen, also das Wechselspiel zwischen Gleichgewichten auf der einen, und Ungleichgewichten auf der anderen Seite. Passenderweise überzieht sie ihren Druckstock zunächst mit einer körnigen Masse, der den Druck auf den Kunststoffplatten plastischer erscheinen lässt als den von einer planen Platte. Mit diesen feinsinnigen Arbeiten gibt sie sich als eine Dozentin zu erkennen, die weit mehr zu bieten hat, als nur das Wissen um die Anfertigung einer technisch perfekten Radierung.
Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom November 2013.
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