Zur Gegenwart der Marktgemeinde gehört, dass hier bewegende Literatur entsteht.
Wie bitte?
Jawohl, hier entstehen lyrische Texte, die etwas mit Dir machen. Die Dich den Unterschied zwischen Tag und Nacht vergessen lassen und auch, woher Du kommst und wohin Dich Dein Weg noch führen wird. Die wollen, dass Du wieder mehr Bob Dylan hörst und mehr Tom Waits.
Richard Lorenz, der in Nandlstadt aufgewachsen ist, beeindruckt bei seinen Lesungen schon seit über zwanzig Jahren die Szene mit einem Stil, der ein wenig erinnert an Paul Auster. Oder ist es weniger der Stil, als mehr die phantastischen Ideen, die so an Auster denken lassen? An den berühmten Autor, der einst das schicke Manhattan hinter sich ließ, um sich in Brooklyn wieder Leben einhauchen zu lassen.
Und schon sind wir mittendrin in der atemberaubend absonderlichen Welt von Leibrand, der Titelfigur in Lorenz‘ aktuellem Roman „Amerika Plakate“. Leibrand, ein ewig Suchender nach der Liebe und nach sich selbst, dessen Geschichten sich in die Seelen der Menschen legen. Dass Leibrand in einer bayerischen Trostlosigkeit der 70er Jahre aufwächst, wird beim Lesen erst irgendwann klar. Andererseits: Schon nach wenigen Zeilen setzt eine Art Sogwirkung ein und verschafft einem das Gefühl, ganz weit weg von allem zu sein.
Der ganze Roman hat etwas – wenn man so will – Ortsloses, was Richard Lorenz für eine ganz gute Wahrnehmung hält. Und für einen Verweis auf seine Geschichte und seinen Charakter. Tatsächlich fühle er sich kaum verbunden, mit dem System Land, wie er das nennt: „Ich finde Land absolut interessant, kann mich allerdings nicht verwurzeln.“
Im Rückblick auf seine eigene Kindheit und Jugend beschreibt er sich als Außenseiter, der aus vielerlei Gründen nicht so recht dazugehörte, aber das vielleicht auch nicht wollte. Er erzählt von Sommern, die er radelnd im ausgestorbenen Ort verbrachte, während alle anderen irgendwie unterwegs waren, im legendären Waldbad von Nandlstadt etwa. „Der Sommer ist was für Gewinnertypen“, sagt Richard Lorenz und zählt sich eindeutig selbst nicht dazu.
Seine Jahreszeit sei der Herbst: „Da schält sich dann der raus, der mit sich was anfangen kann.“
Richard Lorenz erinnert das Lebensgefühl der 1970er Jahre als „eine Mischung aus Kühle und Angst.“ Angst vor dem Terror der RAF. Die Fahndungsplakate in der Bank und in der Post hat Lorenz tief in seinem Gedächtnis, die Motive der zentralen Figuren, die von politisch Engagierten zu Terroristen wurden, beschäftigen ihn. Er sagt, das System Land sei der Angst begegnet, indem diese vom Kitsch übertüncht wurde.
„Die Leute … saßen in den Gärten, auf ihren ausgeblichenen Stühlen, und hatten Angst. Angst vor den Dingen, die noch kommen sollten. Andreas Baader wurde angeblich in der Stadt gesehen, ohne Meinhoff, wie es hieß, obwohl sich Baader einige Jahre zuvor in Stammheim erschossen hatte.“ (Amerika Plakate)
Gut leben auf dem Land ohne ein Teil des Systems Land zu sein wurde also zu einer Art Lebensaufgabe für Richard Lorenz, der für sich – aus einer Arbeiterfamilie stammend – Kunst und Kultur als immerwährenden Anker entdeckte, was auch die riesigen Bücher- und CD-Regale und die großen Poster von Musikern bei ihm zu Hause belegen. Erst die Musik, dann die Lyrik und oft genug gehört ja auch beides zusammen, wie beim verstorbenen österreichischen Liedermacher Ludwig Hirsch, der sich, als er mitten in der Vorbereitung auf eine Tournee, die den bezeichnenden Titel „VIELLEICHT – zum letzten Mal“ tragen sollte, die Diagnose einer unheilbaren Krankheit bekam, aus einem Fenster im zweiten Stock einer Wiener Klinik in den Tod stürzte.
Dieser Sturz ist eine Art Leitmotiv in „Amerika Plakate“. Titelfigur Leibrand fällt. Immer wieder. Vom Stuhl, von Bänken, aber eben auch vom Fenstersims. Wie lange er das überlebt, muss jeder Literaturinteressierte am besten selbst rausfinden, es lohnt sich.
„Jeder hat eine Geschichte, manche davon hell, andere dunkel. Aber es gibt Menschen, die sind wie Romane – man muss sie nur treffen und sie ansehen. Ich nenne sie Herbstkinder, denn der Regen ist ihre Leidenschaft. Sommertage verdorren die Gedanken, und erst der Regen offenbart, was sie gesät haben. Leibrand, das muss ich zugeben, ist der König aller Regenkinder. Ich selbst habe ihn von einem Balkon fallen sehen, es ist schon einige Jahre her, und mich lange gefragt, warum dieser Mann fällt. Vielleicht fällt er sogar aus der Welt, Sie wissen, was ich meine.“ (Amerika Plakate)
Das Wissen darum, dass immer „der Tod im Schatten tanzt“, wie Lorenz das poetisch beschreibt, nennt er seinen Kompass. Dafür, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Erst wenn einer verstehe, dass es morgen vorbei sein könne, sei Neuorientierung möglich. Die Beschäftigung mit dem Sterben ist sein Gegengewicht zum alltäglichen Leben, um die Balance zu halten: „Zentrales Thema ist für mich immer das Sterben. Um daraus das Leben zu erzählen, um das Sterben herum.“
Schon in seiner Jugend sei das so gewesen, als zwei Schulkameraden starben und die Zurückgebliebenen aushalten mussten, dass beide nie zurückkommen. 15 Jahre lang hat Richard Lorenz als Krankenpfleger gearbeitet, zuletzt lange Zeit auf einer onkologischen Station, wo der Tod an jedem Tag, in jeder Minute – sagen wir es nochmals – im Schatten tanzt. Richard Lorenz sagt, die Begleitung Sterbender sei ihm sehr gelegen und natürlich hat sie ihn geprägt. Am liebsten mochte er in jener Zeit Dienste in der Nacht: „Weil’s einfach eine ganz andere Stimmung ist, eine ganz andere Tonlage und auch die Menschen anders sind.“
Überhaupt sei die Nacht seine Verbündete. So ist es auch kaum verwunderlich, dass Richard Lorenz einen guten Teil seiner lyrischen Arbeit in die Nacht verlegt. Auch jetzt noch, obwohl die Schriftstellerei ja seit mittlerweile schon vier Jahren seine Haupttätigkeit ist.
Ein großer Schritt ins Ungewisse, der sich als nicht nur wichtig, sondern auch richtig erwies.
Ein großer Schritt, der von Frau und Kindern mitgetragen wurde.
Ein großer Schritt, der sehr viel Disziplin fordert: Für jeden Tag hat Richard Lorenz das Ziel, fünf bis zehn Seiten zu Papier zu bringen. Er schreibe relativ schnell und auch relativ viel, meint Richard Lorenz und: „Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht zu sehr anpasse an den Markt, sonst wird’s schief.“
Mit „Amerika Plakate“ scheint ihm das gelungen zu sein, allenthalben kommt Lob für den Roman, weil er eben nicht Mainstream ist und den Weg weist von der Belanglosigkeit. So viel Konsequenz allerdings hat ihren Preis: Die großen Verlage drucken das nicht an den Markt Angepasste eher nicht, denn der wirtschaftliche Erfolg soll ja am besten schon im Voraus klar zu beziffern sein.
So war es für Richard Lorenz eine ziemliche Mühe, einen geeigneten Verlag zu finden, vor allem einen, der seinen Roman nicht nur gut fand, sondern auch akzeptiert, dass der Autor nicht bereit ist, seine Texte nur wegen der möglicherweise zu erzielenden Verkaufszahlen glatt zu schleifen, die Frage sei: „Möchte man des schreiben, was man möchte oder möchte man den Markt bedienen?“
Nachdem „Amerika Plakate“ von Schauspielerin Katharina Wackernagel eingesprochen worden und im WDR gelaufen war, fand Richard Lorenz in einem kleinen Spezialverlag den richtigen Partner, der nun auch in Kürze sein neuestes Werk mit dem Titel „Frost“ herausbringen wird.
Vielleicht erlebt Richard Lorenz damit eine Premiere und sein Roman wird in seiner Heimatgemeinde vorgestellt. Eine Lesung daheim, das gab es – warum auch immer – noch nie. Was für Richard Lorenz in München im Fraunhofer oder im Schlachthof seit über zwanzig Jahren erfolgreich passiert, könnte doch auch im Landkreis möglich sein. Ich würde kommen.
Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom November 2015.
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