Irritation als Prinzip
Charlotte Vögele fordert die Wahrnehmung des Betrachters heraus

Wer beim Stichwort Floristik allein an opulente Bouquets und Dekorationen denkt, erfasst nur einen Bereich der vielfältigen Aspekte des Metiers. Freilich beherrscht Charlotte Vögele auch das Binden strahlend schöner Sträuße, weit darüber hinaus aber hat sie die Verwendung pflanzlicher Materialien auf höchst individuelle Art dermaßen verfeinert, dass daraus originelle Kunstwerke entstehen.

Das Talent dafür wurde ihr bereits in die Wiege gelegt. Zwar hätten es ihre Eltern gerne gesehen, dass sie eine kaufmännische Ausbildung absolviert, um später im Verkauf der eigenen Gärtnerei nahe Biberach zu agieren, Charlotte aber war schon damals eher praktisch veranlagt und entschied sich für eine Gärtnerlehre. Weitere Erfahrungen sammelte sie als Mitarbeiterin in einem Blumengeschäft, was schließlich in eine Prüfung als Floristin mündete. Bald danach empfahl ihr eine Bekannte, die von ihren Arbeiten sehr angetan war, sich an der Fachschule für Blumenkunst in Weihenstephan zu bewerben. Damals, Anfang der 1980er, war der Andrang an der der renommierten Schule noch groß, entsprechend wurde bei der Aufnahme gesiebt, aber Vögele bestand die Prüfung auf Anhieb und fand sich selbst im Lauf des Studiums. Auf der Suche nach einer interessanten Stelle zog es sie nach Bozen, wo sie sich mit viel Engagement ein solides Fundament aufbaute, zu dem auch die Ausbildung von Lehrlingen zählte.

Gemäß der Regel, dass nichts erfolgreicher ist als Erfolg, erreichte sie nach vier Jahren in Südtirol der Ruf als Lehrerin an ihre ehemalige Ausbildungsstätte, wo sie wegen ihres fachlichen Könnens und ihrer menschlichen Qualitäten in bester Erinnerung war. Das Einzige, was ihr fehlte, war eine pädagogische Ausbildung, die sie flugs in Ansbach durchlief. Nun war sie in jeglicher Hinsicht bestens gewappnet, um 1987 ihre Lehrtätigkeit in Weihenstephan aufzunehmen. 28 Jahre lang machte sie als leidenschaftliche Dozentin von sich reden, was in den letzten zehn Jahren von der Ernennung zur stellvertretenden Schulleiterin gekrönt wurde. Der besondere Reiz am Unterrichten bestand für sie immer aus der Kombination dreier Faktoren: dem künstlerischen Arbeiten, der Auseinandersetzung mit der Theorie und dem Zusammenarbeiten, respektive dem Austausch mit anderen, ganz im Sinne einer gegenseitigen Befruchtung. Zeugnisse für ihr sicheres Gespür, ihr umfangreiches Fachwissen und ihr Vermögen, den Nachwuchs zur persönlichen Weiterentwicklung zu animieren, lieferten regelmäßig die vielseitig beachteten Werkformen- Ausstellungen, in denen die Studierenden nach wie vor innovative Tendenzen präsentieren.

Doch nicht nur diese profitierten von ihrer umtriebigen Lehrerin, auch sie selbst gewann dort entscheidende Erkenntnisse für ihre ganz persönliche Weiterentwicklung. Alles was sie mache und wie sie es mache, hat seine Wurzeln in der Schule, sagt sie, und mehr noch, betont sie, dass diese ihre geistige Heimat sei. Schon als Studentin hat sie dort gelernt, dass die Flora außer Blumen noch so allerhand andere interessante Materialien zu bieten hat, aus denen sich Kunstwerke generieren lassen. So nähte sie bereits 1981 für die Werkformen-Ausstellung zum Thema Strukturen mit Hilfe einer Nähmaschine einen Teppich aus Buchenblättern, was jeden Laien angesichts des vergänglichen Materials flugs in Erstaunen versetzt. Doch weit gefehlt. Denn zum einen sind Buchenblätter so stabil, dass sie nicht zerbröseln und wenn sie im Trockenen aufbewahrt werden, sind sie auch vor jeglicher Verrottung gefeit.

Eben dieser Teppich stellt die Initialzündung für Vögeles künstlerisches Arbeiten dar, welches sie seither konsequent immer weiter raffiniert hat. Die Arbeit beginnt für die naturverbundene Wahlfreisingerin, die zum Ausgleich klettert und Berge besteigt, stets damit, dass sie durch Wald und Flur streift, um sich von verschiedensten Pflanzen und deren Bestandteilen wie Blättern, Rinden, Zapfen, Dornen oder Fasern inspirieren zu lassen. Erst dann sammelt sie gezielt einen bestimmten Werkstoff für eine ganz spezielle Arbeit, um so die spezifischen Strukturen und Eigenheiten dessen mit einer speziell dafür konzipierten Formgebung zu betonen. Dafür aber will der richtige Zeitpunkt gewählt sein, denn für die Haltbarkeit ist es von entscheidender Bedeutung, dass die von den Pflanzen abgeworfenen Teile am Ende der Vegetationsperiode gesammelt werden, dann, wenn sie sich ohnehin nicht mehr verändern. Dieses Procedere macht zudem jegliche Konservierung obsolet, die obendrein möglicherweise den typischen Charakter der jeweiligen Materialien verfälschen würde. Im Umkehrschluss ließe sich so jedes ihrer Werke an die Natur zurückgeben, wo es im Zuge der Verwitterung bald verrotten würde; dafür aber sind die mit viel Esprit und Akribie entstandenen Artefakte wahrlich zu schade.

Den anfangs flächigen Textilnachahmungen folgten bald dreidimensionale Objekte wie Hemdchen oder Kleider, mit denen sie Marylin Monroe ebenso wie Johannes Brahms ihre Ehre erwies. Einem weiten Publikum bekannt geworden ist sie anfang der 2000er Jahre mit ihren lebensgroßen vollplastischen Körperformen, Torsi von perfekten Frauenfiguren, über und über bedeckt von minutiös applizierten Pflanzenteilen, die von der Ferne so wirken, als handelte es sich um besonders exquisite Modelle der Haute Couture. Und genau das ist es, was Vögele mit ihren doppeldeutigen Arbeiten erwirken will, sie möchte den Betrachter irritieren, ihm Rätsel aufgeben, zum Nachdenken anregen. Für eben diesen Zweck bieten diese Werke eine ganze Menge. Sie bestehen aus natürlichen, nachwachsenden Rohstoffen, erinnern uns daran, wo wir herkommen und dass wir uns einst in natürliche Materialien hüllten, sei es auch nur ein Feigenblatt, um das Elementarste zu bedecken, fungieren aufgrund ihrer Materialität als Metaphern für die Vergänglichkeit, die aber durch die Verarbeitung der Künstlerin gestoppt wird und rufen Trompe-l’oeils par excellence hervor. Obendrein versinnbildlichen sie das Menschsein an sich, das hier quasi zurück in die Natur eingebettet wird, und dies in einer Weise, die durchaus Kuschelfaktoren verspricht, wie etwa eine Weste aus langen Fasern, die an wollig weichen Pelz erinnern. Ganz anders sieht es da schon bei den Stilettos aus, die all over mit Dornen beklebt sind, da tun einem allein beim Anblick schon in doppelter Hinsicht die Füße weh, eine vortreffliche Reminiszenz daran, dass Schönheit leiden muss.

Nur auf den ersten Blick verlockend wirken auch die Kissen, die von Ferne einen dichten Flor suggerieren, sich bei näherer Betrachtung aber als stachelige Objekte herausstellen. Erheblich leichter muten die neueren Werke an, flächige Kompositionen, die wie textile Faltenwürfe frei an der Wand hängen und sich im leisesten Windhauch zu bewegen scheinen. Dafür wurden all die unzähligen Einzelteile auf Gewebe appliziert oder mit Myrthendraht verbunden. Eben diesen dünnen aber sehr stabilen Draht, der üblicherweise für das Binden von Kränzen verwendet wird, benutzt sie nun als alleiniges Material, um daraus eigenständige Arbeiten zu kreieren, und zwar in Endlosschleifen, mit denen sie florale Formen nachahmt, die wie Bilder an der Wand hängen. Durch den Lichteinfall erzeugen diese filigranen Raumzeichnungen einen Schatten auf der Wand, der eine zweidimensionale Übersetzung der dreidimensionalen Objekte erzeugt.

Das Markante an Charlotte Vögeles Werk ist, dass sie immer nur mit Materialien arbeitet, die sich in ihrer nächsten Umgebung befinden, mit vergleichsweise banalen Dingen, die aber durch ihren unorthodoxen Einsatz neue Bedeutungen und Wertigkeiten erhalten. Heutzutage ist dieser Gedanke hinsichtlich der Resourcenschonung im Sinne von Upcycling in aller Munde, doch Vögele arbeitet bereits seit 40 Jahren nach dieser Devise, könnte als gut und gerne als eine Vorreiterin der aktuellen Bewegung betrachtet werden. Nicht zuletzt deshalb konnte sie schon früh in der Kunstszene Fuß fassen, richtete unzählige Ausstellungen in ganz Deutschland ein und wurde im vorigen Jahr mit dem Moritz-Evers-Preis für die Entwicklung einer neuen Kunstform ausgezeichnet. Aktuell ist sie damit beschäftigt, ihre nächste Ausstellung in Berg am Starnberger See vorzubereiten und genießt es dabei einmal mehr, sich jetzt, da sie in Rente ist, ganz und gar darauf konzentrieren zu können. 

von Elisabeth Hoffmann

Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom Januar 2023.
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