Erste Schritte in eine demokratische Zukunft
Wiederbeginn der Demokratie nach der NS-Diktatur

Im Oktober feiert Deutschland „30 Jahre Wiedervereinigung“, außerdem jährt sich die Befreiung Deutschlands und der Welt vom Nationalsozialismus heuer zum 75. Mal. Zwei essentielle Ereignisse für die Demokratie in Deutschland. Der Freisinger Historiker Dr. Guido Hoyer wirft einen Blick zurück auf die Zeit, in der diese in Freising wieder Einzug halten konnte – und gibt der Vergangenheit damit Namen und Gesichter.

Am 29. April 1945 hatte die US-Armee Freising besetzt. Freisings nationalsozialistischer Oberbürgermeister Hans Lechner, der sich zahlreicher Verbrechen schuldig gemacht hatte, besonders als diktatorischer SA-“Sonderkommissar“ bei der Gleichschaltung 1933, wurde verhaftet, mit ihm zahlreiche NS-Funktionär* innen. Die Stadtverwaltung wurde zunächst „beurlaubt“, nach einigen Tagen jedoch gestattete man den Mitarbeitern, die Arbeit wieder aufzunehmen. Drei Tage – vom 30. April bis zum 3. Mai 1945 – fungierte ein Polizist als Oberbürgermeister, dann beriefen die Amerikaner Emil Berg in dieses Amt. Er war Münchner, 71 Jahre alt und als Ausgebombter erst 1944 nach Freising gekommen.

Die Militärregierung strebte eine rasche Re-Demokratisierung Deutschlands an, was nach zwölf Jahren Nazidiktatur – also nach zwölf Jahren totaler Negation der Menschen- und Bürgerrechte, systematischer Verhetzung der Kinder und Jugendlichen, Durchsetzung aller Behörden und Verwaltungen mit NSDAP-Mitgliedern – eine gigantische, fast unlösbare Aufgabe war. Dabei war klar, dass den Deutschen demokratische Werte nicht von den Amerikanern „eingeimpft“ werden konnten, sondern die Demokratie von unten her, von der kommunalen Ebene her wachsen musste.

Am 6. September 1945 traf Freisings US-Militärverwaltung daher zwei Entscheidungen für den Wiederaufbau der Demokratie: Sie rief zur Gründung demokratischer Parteien auf und ernannte einen provisorischen Stadtrat. Als erste Partei wurde am 6. Dezember der Ortsverband der SPD von der Militärregierung lizensiert, kurz darauf folgten die CSU und die KPD. Für Januar 1946 lauteten die Mitgliederzahlen: CSU 625 Mitglieder, SPD 309, 131 Freisinger*innen waren KPD-Mitglieder. Zuvor war im November 1945 die „Allgemeine Freie Freisinger Gewerkschaft“ mit ihren Fachbereichen, darunter „Lebens- und Genußmittel“, „Bekleidung, Textil und Reinigung“, „Graphik und Papier“ und „Bau, Steine und Erde“ gegründet worden.

Der erste Stadtrat bestand aus zehn Männern. Offenbar hatten die Amerikaner ein ausgewogenes Verhältnis verschiedener politischer Strömungen angestrebt, denn fünf der Stadträte – Johann Braun, Karl Dettenhofer, Georg Erl, Michael Klauber und Anton Warmuth – waren „Bürgerliche“, später in der CSU verortet, fünf gehörten der Arbeiterbewegung an; vier waren Sozialdemokraten: Michael Einreiner, Martin Fischer, Dr. Franz Goß und Josef Schels. Leonhard Rödl war Kommunist. Über die Sitzungen wurde bekannt gemacht: „Weiterhin wird darauf hingewiesen, dass die Stadtratssitzungen regelmäßig am Freitag nachmittags 5 Uhr stattfinden und öffentlich sind. Ausnahmsweise kann von Fall zu Fall geheim beraten werden.“ Die Biographien der Stadträte zeigen, dass es der US-Militärregierung wohl auf zwei Dinge ankam: Eine klar antifaschistische Haltung und Erfahrung in Politik und Verwaltung. Auch das Handwerk war vertreten und zwar mit dem Malermeister Klauber und dem Steinmetz Erl. Beide waren politisch noch nicht hervorgetreten. Die Stadträte waren zwischen 37 (Rödl) und 75 Jahre (Warmuth) alt.

In aller Kürze soll versucht werden, einige der Lebensläufe zu skizzieren: Der Furtner- Bräu Johann Braun hatte dem Stadtrat bereits 1919-1933 angehört, zuerst als Vertreter eines eigenen Wahlvorschlags, dann für die katholisch-konservative Bayerische Volkspartei (BVP). Dieser hatte auch der Buchdruckerei-Besitzer Anton Warmuth angehört, der von 1919 bis 1924 im Stadtrat war. Karl Dettenhofer, Besitzer des Hotels „Bayerischer Hof“, war Mitglied der Widerstandsgruppe „Freiheitsaktion Bayern“ gewesen. Am 29. April 1945 verhandelte er unter Lebensgefahr mit dem Stadtkommandanten der Wehrmacht und den anrückenden US-Truppen und erreichte die kampflose Übergabe der Stadt.

Michael Einreiner war Drucker bei Datterer, vor 1933 Vorsitzender der Freisinger Gewerkschaften und von 1919 bis 1933 SPDStadtrat. Ebenfalls im Gremium in diesen Jahren: Martin Fischer, gelernter Müller, aber dann als Arbeiter bei Schlüter. Am 10. März 1933 verschleppten ihn die Nazis in „Schutzhaft“ wegen „aktiver Gegnerschaft“.

Dr. Franz Goß fand dagegen erst in der Nachkriegszeit zur SPD. Er war Chemiker und als Assistent an der Forschungsstelle für Gartenbau in Weihenstephan tätig, bis er 1943 unter Anklage von „Wehrkraftzersetzung“ verhaftet wurde und bis 1944 eingesperrt blieb. Mangels Beweisen wieder freigelassen, ließ ihn der NSDAP-Kreisleiter Hans-Rupert Villechner als Zwangsarbeiter in der Schlüter-Fabrik die Latrinen putzen. Josef Schels war als Metallarbeiter bei Steinecker tätig. Schon 1923 war er Opfer des NS-Terrors geworden. Denn beim Hitler-Putsch, als die Putschisten für eine Nacht auch Freising besetzt hatten, nahmen sie Freisinger Arbeiterfunktionäre, darunter Schels, in Geiselhaft. Nach der Machtübernahme 1933 kam Schels, seit 1929 Stadtrat, in „Schutzhaft“ ins Freisinger Gefängnis.

Der Arbeiter Leonhard Rödl, den NS-Schergen als „radikaler Parteigänger der KPD“ bekannt, war zweimal, 1933 und von 1936 bis 1938 im Konzentrationslager Dachau inhaftiert und dort schwer gefoltert worden.

Wie arbeitete der Stadtrat? Jedem der zehn Stadträte wurde ein Referat zugeteilt. Es gab folgende Referats-Verteilung: Wohnungswesen (Rödl), Fürsorgewesen (Erl), Stadtwerke und Schlachthof (Schels), Friedhöfe und Freibad (Fischer), Grundbesitz, Landwirtschaft, Ernährung, Heiliggeist-Spital (Braun), Waisenhaus, Kindergärten, Krankenhaus, Lazarette (Dettenhofer), Handwerk, Einzelhandel, Industrie (Klauber), Schulen (Goß), Sparkasse, Finanzen und Personal (Warmuth), Arbeiter, Gewerkschaften, Sport (Einreiner).

Der Überblick zeigt, welche Themen im Mittelpunkt der Stadtratsarbeit standen: die Versorgung der Bevölkerung und die Unterstützung von Kriegsopfern. Die Lebensmittelversorgung musste über die Freibank oder den Landwirtschaftsbetrieb der Heiligeistspitalstiftung organisiert werden, die Lazarette waren voller verwundeter Soldaten und schwerkranker Überlebender der Todesmärsche und Lager. Viele erlagen noch nach der Befreiung ihren Leiden und wurden auf Freisinger Friedhöfen bestattet.

Auf Antrag von Josef Schels beschloss der Stadtrat im Oktober 1945 einstimmig, dass die Freisinger NSDAP-Mitglieder ihre Mitgliedsbeiträge weiter zahlen sollten. Diese Gelder sollten zur Finanzierung des Wiederaufbaus der Isarbrücke beitragen, sozusagen nach dem Verursacherprinzip, denn die Brücke war unmittelbar vor der Befreiung noch von fanatischen Nazis gesprengt worden.

Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten war – zusammen mit den US-Truppen – Aufgabe der städtischen Polizei, die zu dieser Zeit 28 Mitarbeiter hatte. Für 1945 und 1946 gibt es keine Kriminalitätsstatistik, 1947, als die Verhältnisse schon viel, viel geordneter waren, gab es in der Stadt Freising 2.528 Anzeigen, 455 Festnahmen und 809 Hausdurchsuchungen. 488 Diebstähle und 246 Schwarzmarkt- Delikte wurden registriert. Polizeichef war ein Kommunist: Franz Rottenhuber. Auch er war ein politisch Verfolgter, den das NSRegime mehrmals eingesperrt hatte.

Die schwierigste Aufgabe im Stadtrat bekam jedoch Leonhard Rödl mit dem Wohnungsreferat. Bezahlbarer Wohnraum war in Freising seit der Industrialisierung um 1900 immer Mangelware gewesen. Jetzt verschärfte sich die Situation dramatisch: Häuser wurden von der USArmee für ihre Zwecke beschlagnahmt, Freising war überfüllt mit Ausgebombten aus München, dazu kamen die befreiten Zwangsarbeiter und KZ-Überlebenden, Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten. Man konnte froh sein, ein Dach über dem Kopf, eine „Schlafstelle“ zu haben. Rödl bekam einen Beirat aus je zwei Vertretern von Vermietern (Emeran Franzspeck, Johann Thalhuber) und Mietern (Anton Setzwein, Franz Dettenhofer) zur Seite gestellt. Die beiden Sozialdemokraten Franzspeck und Setzwein waren politische Verfolgte und im KZ Dachau interniert gewesen. Der Wohnungsausschuss machte sich nicht eben beliebt, denn die Wohnungssuchenden unterzubringen hieß, anderen Wohnraum wegzunehmen. Es gab zum Beispiel die Regelung, dass ehemalige NS-Funktionäre – nicht die Mitläufer – Wohnungen zu Gunsten von Flüchtlingen und Verfolgten abzutreten hatten.

Die schwierigste Aufgabe im Stadtrat bekam jedoch Leonhard Rödl mit dem Wohnungsreferat. Bezahlbarer Wohnraum war in Freising seit der Industrialisierung um 1900 immer Mangelware gewesen. Jetzt verschärfte sich die Situation dramatisch: Häuser wurden von der USArmee für ihre Zwecke beschlagnahmt, Freising war überfüllt mit Ausgebombten aus München, dazu kamen die befreiten Zwangsarbeiter und KZ-Überlebenden, Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten. Man konnte froh sein, ein Dach über dem Kopf, eine „Schlafstelle“ zu haben. Rödl bekam einen Beirat aus je zwei Vertretern von Vermietern (Emeran Franzspeck, Johann Thalhuber) und Mietern (Anton Setzwein, Franz Dettenhofer) zur Seite gestellt. Die beiden Sozialdemokraten Franzspeck und Setzwein waren politische Verfolgte und im KZ Dachau interniert gewesen. Der Wohnungsausschuss machte sich nicht eben beliebt, denn die Wohnungssuchenden unterzubringen hieß, anderen Wohnraum wegzunehmen. Es gab zum Beispiel die Regelung, dass ehemalige NS-Funktionäre – nicht die Mitläufer – Wohnungen zu Gunsten von Flüchtlingen und Verfolgten abzutreten hatten.

Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom Oktober 2020.
In unserer Bibliothek können Sie diese und alle anderen Ausgaben der letzten Jahre online lesen.

zur Bibliothek...
weitere Artikel zu diesem Thema: