In den Jahren 1904 und 1905 war der Freisinger Marienplatz eine Großbaustelle. Die Stadtpolitik unter der Führung von Bürgermeister Stephan Bierner (amt. 1899-1933) hatte kurz zuvor beschlossen, das spätmittelalterliche Rathaus abbrechen und an dessen Stelle einen Neubau errichten zu lassen. Als im Dezember 1905 das neue Rathaus nach 19-monatiger Bauzeit bezugsfertig war, konnte sich Freising glücklich schätzen über diesen geräumigen und gleichermaßen repräsentativen Bau. Architekt Günther Blumentritt hatte ein Gebäude geschaffen, das sich mit seiner regionalen Architektursprache und seiner überwiegend zurückhaltenden Fassadengestaltung bis heute gut in die – ebenfalls eher schlichte – Physiognomie der Bürgerstadt integriert, das aber zugleich Gestaltungselemente enthält, die seine Bedeutung als „erstes Haus“ der Stadt in angemessener Weise kenntlich machen.
Dem Rathaus-Neubau war ein Architektenwettbewerb vorausgegangen – der erste, den man im Zusammenhang mit einem städtischen Bauprojekt durchgeführt hatte. Die Organisation des Wettbewerbs hatte der „Oberbayerische Architekten und Ingenieurverein“ übernommen, der bis heute als „Münchener Architekten und Ingenieurverein“ fortbesteht. Von den insgesamt 35 eingesandten Projekten waren drei prämiert worden. Neben den ersten beiden Preisträgern Otto Schulz und Richard Senf ist vor allem der Name des dritten Preisträgers bemerkenswert: Paul Ludwig Troost, der später als „Erster Baumeister des Führers“ die Pläne u.a. zum „Führerbau“ und zum „Haus der (Deutschen) Kunst“ in München liefern sollte. Wie es bei Architekturwettbewerben nicht unüblich ist, hatte die Prämierung keinerlei Folgen für die Auswahl des zu realisierenden Entwurfs. Die Freisinger Stadtpolitik hatte sich, wie bereits dargestellt, schlussendlich für das Projekt des Münchner Architekten Günther Blumentritt ausgesprochen.
Ein weiterer Architekt, der sich mit einem Entwurf am Wettbewerb beteiligt hatte, war der Münchner Adolf Seiffhart. Von seinem Rathaus-Projekt zeugen zwei Fassadenrisse, die sich im Stadtarchiv Freising erhalten haben: Sie zeigen zum einen die zum Marienplatz gewandte Schaufassade, zum anderen die langgezogene Hauptstraßenfassade. Noch stärker als Blumentritt bedient sich Seiffhart Gestaltungselementen der Renaissance – eine Epoche, die nach Auffassung zahlreicher damaliger Architekten eine für Rathaus-Neubauten „ideale“ Architektursprache bereithielt. Augenfälliger Unterschied zu Blumentritts Projekt ist die insgesamt deutlich plastischere Ausgestaltung, die sich besonders durch den südöstlichen Eckerker mit welscher Haube sowie platzseitig durch den mittigen Rathausbalkon und die Treppe mit einer darüber liegenden Altane ergibt. Während bei Blumentritt der Schaugiebel das dominierende Element der Marienplatz-Fassade ist, fällt dieser bei Seiffhart viel dezenter aus; statt der Dachzinnen, mit welchen Blumentritt in Anlehnung an das gotische Vorgänger-Rathaus den Giebel abschloss, zeigt sich in Seiffharts Entwurf ein relativ flach gestaffelter Giebel, jeweils mit Muschelornamenten verbunden und durch kleine Obelisken untergliedert.
Über diesen Rathaus-Entwurf hinaus findet sich Seiffharts Name in den Jahren nach 1900 im Zusammenhang mit Freisinger Bauprojekten häufiger. Von seiner Hand stammen etwa Pläne zur Neugestaltung des „Furtnerkellers“ an der Wippenhauser Straße (1906); auch im Bereich des gegenüberliegenden, seinerzeit sogenannten „Villenviertels“ scheint er tätig gewesen zu sein. Seine Pläne zur Neugestaltung der Fassade des Posthalterhauses („Heindlhaus“) in der Oberen Hauptstraße (Nr. 18) wurden 1904 verwirklicht (der Giebel dieses Hauses weist deutliche Ähnlichkeiten zu Seiffharts projektiertem Rathaus-Giebel auf).
Adolf Seiffharts Rathaus-Projekt ist – neben demjenigen von Günther Blumentritt – das einzige, von dem sich originale Entwürfe erhalten haben. Anhand von groben Skizzen, die in seinerzeitigen Baufachzeitschriften wiedergegeben wurden, kann man sich zwar von einem Teil der anderen Wettbewerbs-Entwürfe ein ungefähres Bild machen – Originale ersetzen sie aber freilich nicht. Was im Einzelnen die Gründe dafür sind, dass die Überlieferung zum Freisinger Rathaus-Wettbewerb heute derart dünn ausfällt, muss offenbleiben.
Von Florian Notter, Leiter des Stadtarchivs Freising
(Foto: Stadtarchiv Freising. Adolf Seiffharts Entwurf für die Schaufassade des Rathauses am Marienplatz; anders als Günther Blumentritts ausgeführtes Projekt gibt es hier einen Rathausbalkon)
QUELLEN: Stadtarchiv Freising, AA II, v.a. Nr. 5612; ebd., Plansammlung, o. Nr.
LITERATUR (AUSWAHL): Lübbeke, Wolfram: Das Rathaus in Freising (31. Sammelblatt des Historischen Vereins Freising), Freising 1987, S. 1-39.
Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom März 2022.
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