Die magische 7
Kalle Wallner legt mit „Voices“ ein Meisterwerk vor

Freising ist mit ihm gesegnet – und damit ist hier nicht etwa eine kirchliche Instanz gemeint, sondern ein ganz bestimmtes musikalisches Genie inmitten der Domstadt. Natürlich ist Karlheinz „Kalle“ Wallner längst kein Unbekannter mehr, und das weit über die Landesgrenzen hinaus – alleine schon wegen der Kultformation RPWL und dem ganz eigenen, nicht weniger erfolgreichen Projekt „Blind Ego“. Dennoch gelang dem Ausnahmegitarristen Wallner abermals etwas ganz Besonderes und Solitäres, denn sein aktuelles Album „Voices“ ist nicht nur der erste Solo-Tonträger unter seinem eigenen Namen, sondern vor allem ein Album voller flirrender musikalischen Memorabilien. Eine vertonte Traumwelt, weitgehend instrumental skizziert und damit Emotionen portraitierend: Wallner griff dafür tief in sein scheinbar unerschöpfliches Talent-Reservoir und legte Stücke vor, die Soundtrack sind, aber auch Sehnsuchtsfragmente und Chiffren auf das Leben selbst. Die Gitarre als Geschichtenerzähler, als Host zwischen den Welten, für ein Album, das weit über die Grenzen von Genres wandert und damit überall auf der Welt seine Fans finden wird. Wallner, der tatsächlich mutig genug ist, auf die menschliche Stimme bei den meisten Songs zu verzichten, öffnet mit diesem Trick weit die Türen der Interpretationen und zwingt damit den Hörer, sich mit den Songs auseinanderzusetzen – in einer Zeit, in der Musik oftmals nur noch nebenbei läuft.

7 Songs und 7 Träume: „Voices“ berauscht, überrascht, zieht in den Bann und lässt ein Echo zurück, das tagelang nachhallt. Sphärisch und doch zentral, eine Vermengung von urbanen Klängen und den Herzschlägen des Musikers, der so punktgenau komponiert, dass jeder Song zu jeder Lebenssituation zu passen scheint. Es ist überaus geschickt, den Songs per se keine Titel zu geben, sondern nur Nummern, um die Freiräume offen zu halten und auch die Übergänge einer Twilight-Zone zu übergeben – alleine gelenkt durch die musikalischen Stränge und Erzähl-Episoden. Werden die ersten beiden Nummern noch härteren Klängen dominiert, bricht Wallner mit „Three“ diesen Rhythmus auf und holt den Sänger Arno Menses mit der Frage auf die Bühne, was nun Wirklichkeit ist oder Trugbild – ein Song, der vielleicht im Zentrum steht, weil er unabhängig von Text ein überaus außergewöhnliches Werk ist und doch ins Oeuvre von Wallner perfekt passt. Jenem Gesamtwerk des Freisingers, das sich so facettenreich darstellt, wie kaum ein anderes in Oberbayern wohl ist. Mit „Voices“ übertrumpft sich Wallner allerdings erneut, denn zweifelsohne haben wir damit ein Album vor uns, das getrost als Meisterwerk gekennzeichnet werden darf. Ein Meisterwerk Made in Freising.

Da „Three“ womöglich das Herz des Albums ist, oder wenigstens eine Herzkammer, ist es nicht überraschend, dass Wallner hier auch eine Visualisierung dazu präsentierte. Dabei zeigt sich der Videoclip magisch und spielt erneut mit Urbanität und Rückzug, mit Distanz und Nähe. Gedreht wurde in der Freisinger Kultgaststätte Furtner: Ein Reisender mit Gitarre stromert durch verlassene Gänge und Räume mit Schattenwürfen. Das Zimmer mit der Nummer 3, eine gespenstische Gestalt am Empfang und der pulsierende Song aus den Ritzen in den Wänden. So ist es nicht eine lose Anreihung von stimmungsvollen Bildern, sondern vor allem eine Hommage an seine Stadt, die er mit phantastischen Elementen an- und bereichert. Und vielleicht ist damit „Three“ sozusagen auch ein Vorschlag, um das Album zu deuten – nämlich als magische Reise zwischen Realität und Schimäre. Eine Reise, die zwar über ein Logbuch verfügt, aber dennoch ins Ungewisse führt, aber niemals ausfranst, denn Wallner komponierte mit „Voices“ ein Gesamtkunstwerk ohne Qualitäts-Verlust. Das beweisen nicht nur die weiteren Songs, sondern vor allem der Track mit der Nummer 7 und dem Nebentitel „Out“. Der Song mit einer Spielzeit von über 11 Minuten ist Rückblende und Zukunftsvision gleichermaßen – ein Song, der das Album noch einmal in luftige Höhen treibt, abrundet und doch einen Spalt offen lässt für alles Kommende. Ein Song für die Ewigkeit.

Sofern „Three“ als Herzstück beleuchtet werden kann, muss die „Seven.Out“ als Seele des Albums betrachtet werden. Hier zeigt Wallner seine Fähigkeiten als Gitarrengott, der eben nicht nur zeigt, was er kann, sondern vor allem, was er fühlt. Dabei singen die Zwischentöne, machen das gesungene Wort sogar überflüssig und schälen den Moment frei von unnötiger Lyrik. So wird der letzte Song auf dem Album zu einem Genie-Streich, der trotz Länge wie ein Wimpernschlag vergeht und die persönliche Echokammer mit Vibrationen zurücklässt. Und auch das funktioniert: Mit „Seven“ beginnen und mit „One“ aufhören, um festzustellen, dass Wallner ein musikalisches Palindrom gelungen ist. Natürlich, und das sollte auch erwähnt werden, könnte „Voices“ als Pandemie-Album gelten, vielleicht sogar als Antwort auf eine sprachlose Zeit der inneren Rückkehr. Allerdings ist dafür „Voices“ viel zu vielschichtig, viel zu grandios, viel zu bewegend, um es als Corona-Zeitvertreib zu deuten. Dem Freisinger Musiker hat vielmehr ein Aufbruch-Album gewagt, das auch seine eigenen bisherigen Auslotungen überschritten hat und auch zeigt, wie filigran er an Kompositionen arbeitet, die weit weg sind von Ländergrenzen. Wallner wollte keine aneinandergereihte Griffbrett-Kabinettstücke zeigen und somit kein verkopftes Album alleine für Gitarren-Fans produzieren. Auf den Weg gebracht hat er hingegen einen äußerst ungewöhnlichen Tonträger, der Herz und Hirn bedient und sich dort einbrennt. Einen Tonträger, für den nur eines gelten kann: „Play it loud“ und „Play it again“.

Das Album ist erhältlich als aufwändiges CD-Digipak, als limitierte Vinyl-Ausgabe (180g) plus Download-Code oder als Streaming und Download bei allen bekannten Portalen. Mehr Informationen unter www.kallewallner.com.

(Text: Richard Lorenz, Foto: Alexey Testov)

Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom Februar 2022.
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