Die Geschichte(n)finderin
Christine Ziegler bezeichnet sich selbst als leidenschaftliche Zuhörerin

Die seit zwei Jahrzehnten in Neufahrn lebende Christine Ziegler hat sich in den letzten Jahren mit einfühlsamen und ausgefeilten Kinder- und Jugendbüchern einen Namen gemacht. Geplant allerdings war das nicht, vielmehr spielte König Zufall dabei eine gehörige Rolle. Zwar wuchs sie im idyllischen Werdenfelser Land mit einer großen, mitteilungsfreudigen Verwandtschaft auf und konnte so früh das aufmerksame Zuhören üben, wobei sie viel über „Schuld und Sühne, Stolz und Vorurteil, Krieg und Frieden“ gelernt hat. Zudem verbrachte sie einen großen Teil ihrer Kindheit und Jugend mit Lesen, Schreiben und dem Lauschen von Geschichten aus fremden Ländern und von unbekannten Leben. Wie sehr all das ihre Kreativität angeregt hat, lässt sich heute in ihren mannigfaltigen Geschichten entdecken.

Trotz dieser Neigung zum gesprochenen Wort und zur Literatur entschied sie sich, den Beruf der Restauratorin zu ergreifen, um so auf eine andere Weise dem Leben nachzuspüren. Zunächst studierte sie in München Kunstgeschichte und Volkskunde, dann absolvierte sie ein dreijähriges Praktikum am Bayerischen Nationalmuseum in München. Dort genoss sie es, mittels verschiedenster Gegenstände, wertvollen, außergewöhnlichen und prunkvollen, aber auch alltäglichen, abgenutzten und sogar verbrauchten, die Vielfalt des Lebens zu erforschen. All die Objekte erzählen gleichermaßen von ihrem eigenen Dasein wie dem ihrer Eigentümer und der Restaurator avanciert während der Beschäftigung mit ihnen immer irgendwie zum Detektiv. Darüber hinaus aber interessierte sich Ziegler, die ein Faible für alte Handwerkskunst pflegt, besonders für die Haptik und Materialität der Originale sowie diverse Kunsttechnologien. Schließlich vertiefte sie sich in die Textilrestaurierung, nicht nur weil sie Stoffe liebt, sondern auch um der Geringschätzung weiblicher Handarbeit etwas entgegenzusetzen.

Um dies weiter zu vertiefen ging sie bis nach Köln, wo es an der Fachhochschule im Fachbereich Restaurierungswissenschaften einen speziellen Schwerpunkt für Textil gab. Danach setzte sie ihr Studium an der TU München fort, konzentrierte sich auf Konservierungswissenschaften und schloss ihre Ausbildung mit dem eigenwilligen Titel Dipl.-Rest. ab. Sie selbst findet das sehr passend, „da ich mich tatsächlich nur mit Resten beschäftigt habe“. Letztendlich sagt sie, ist sie über die Beschäftigung mit Resten künstlerischen Schaffens und menschlichen Lebens zu einer leidenschaftlichen und professionellen Zuhörerin geworden, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.

Und eben dieses Zuhören begeisterte sie im Lauf der Zeit so sehr, dass sie seither nur noch mit Stift und Notizblock aus dem Haus geht, um Ideen und Gedanken flugs festhalten zu können, woraus inzwischen ein stattliches, wohlsortiertes Archiv entstanden ist. Irgendwann war ihr Fundus dann dermaßen umfangreich, dass sie begann, daraus Geschichten zu generieren, allerdings nur für sich selbst, weil es ihr einfach gut getan hat. Nach jahrelanger Zurückhaltung hat sich die „Geschichte(n)finderin“, wie sich selbst definiert, dann schließlich doch dafür entschieden, eine Veröffentlichung zu wagen, und der Erfolg sollte ihr Recht geben. Seither begeistert sie ihre Leserschaft mit fiktionalisierten Erzählungen über reell existierende Themen, mit denen sie einerseits für Unterhaltung sorgt, andererseits aber auch Mut zum selbstbestimmten Leben und zur Veränderung macht.

So wie die Science-Fiction-Geschichte von Will, dem Anführer der ‚Jaguarkrieger‘, einem erfolgreichen Gamer-Clan, der im atomar verseuchten Berlin situiert ist. Dort lassen Eltern ihre Kinder wegen einer drohenden Krankheit genetisch optimieren, ein Seitenhieb auf die Medizin- Ethik. Der 16-Jährige schlägt sich so lange als illegaler Computerspieler durch bis ihn Sicherheitsbeamte in die Enge treiben und er fliehen muss. Doch die Jagd auf ihn geht weiter, bis er sich dem Kampf stellt, frei nach dem Motto: Sie suchen dich, sie jagen dich, aber du wirst sie kriegen. Dieser spannende Jugendthriller beeindruckte boys&books so enorm, dass sie ihn in 2018 zum Top- Titel für die Altersklasse 14+ wählten und zur Leseförderung von Jungen empfohlen. Das freute Ziegler doppelt, ist es ihr doch ein spezielles Anliegen, mit ihren Texten Kinder und Jugendliche zum Lesen zu animieren, und zwar von klein auf.

Unter dem Titel ‚Spinnst du schon?‘ sinnierte sie über eine Spinne, die aus Fäden tolle Netze knüpft und schlug damit gleich zwei Fliegen mit einer Falle. Die Kleinsten erfahren in diesem Bilderbuch neben den speziellen Fähigkeiten dieser Insekten auch so einiges über eigenständiges Handeln. Ein Kreuzspinnenkind nämlich spinnt nicht, ist aber zäh und einfallsreich genug, um seinen individuellen Weg zu gehen, was schließlich sogar die alte Kreuzspinne überzeugt. Weitere Anregungen zur Selbstmotivation finden sich ebenfalls in Zieglers alljährlich neuen Weihnachtsgeschichten, in denen Kinder Tipps für ein gelungenes Fest entdecken können.

Wie geschickt sie wertvolle Ratschläge zu verpacken vermag, fiel auch den Verantwortlichen der Sammlung Brandhorst (München) auf, diese beauftragten sie vor zwei Jahren, ein Kinderkreativheft zur Ausstellung von Lucy McKenzie zu erstellen. McKenzie arbeitet an der Schnittstelle von Mode und Kunst, Ziegler begeistert sich für Textilien und Handarbeiten. In dem kleinen, feinen Büchlein namens ‚Wer war’s?‘ geht die Autorin einer unerklärlichen Farb-Spur nach und führt dabei durchs ganze Museum. In den kurzen, prägnanten Texten spiegelt sich ihre fundierte Fachkenntnis ebenso wie ihr Talent bezüglich einer leicht verständlichen Vermittlung.

Ein eindrucksvolles Beispiel ihrer vermeintlichen Fantasie, die sich beim aufmerksamen Lesen stets als Resultat ihrer sensiblen Wahrnehmung, den daraus folgenden Assoziationen und deren raffinierter Transferierung entpuppt, stellt die Jugendroman-Trilogie über die 17-jährige Anna Konda dar. Diese lebt wohlbehütet hinter Klostermauern, allein das tägliche Kampfsporttraining mit Meister Li bringt Bewegung in den stillen Alltag. Später stellt sich heraus, dass der Unterricht bei ihm einen tieferen Sinn hat, als ob er sie auf einen ganz besonderen Kampf vorbereiten wollte. Eines Tages nämlich taucht ein gewisser Leo Pard auf, der sie über die unglaubliche Wahrheit ihrer Abstammung aufklärt; womit dann auch nachvollziehbar ist, weshalb sie ihren Eltern nicht ähnlich sieht, und woher ihr außergewöhnlicher Name rührt. Eine Anakonda ist bekanntlich eine Schlange und hier eine Metapher für die Schlange im biblischen Sündenfall.

Sünden ganz anderer Art begehen Motten indem sie Löcher in Textilien fressen, am liebsten in wertvolle Naturfasern, versteht sich, darüber kann Ziegler endlos referieren, und ein ebenso lehrreiches wie unterhaltsames Kinderbuch schreiben, das durchaus auch für Erwachsene noch so allerhand Wissenswertes bereit hält. Der von Stephanie Marian liebevoll bebilderte Band ‚Kunstfresser – Aus dem Leben einer Museumsmotte‘ führt den Leser / Besucher peu à peu durch ein Kunstmuseum und beleuchtet darüber allerlei museumsspezifische Vorkommnisse. Währenddessen schlagen sich die Motten nicht nur ihre Bäuche voll, sondern lernen zudem eine ganze Menge über Kunst, Verhaltensregeln im Museum und sogar über Kunstdiebstähle. Auf diesem Weg will Ziegler dem Nachwuchs den Zugang zur Bildenden Kunst öffnen und ihm ermöglichen, Kunst zu erleben, frei nach ihrem Credo. „Kunst, Musik und Literatur sind die Felder, die uns durchs Leben tragen.“

Und eben darum kreist gleichfalls ihr neuestes Werk, ihr erster Krimi für Erwachsene. Mit dem sinnfälligen Titel ‚Maschenmord‘ nimmt sie unter dem Pseudonym Leonie Kramer Bezug auf ihre eigene Kindheit, genauer auf einen Wollladen, der sie immer wegen seiner wohlsortierten Vielfarbigkeit begeisterte. Die Hauptperson, ein Kommissar, möchte gerne in der Gegend um Murnau malen, also im Werdenfelser Land. Doch daraus wird nichts, weil im örtlichen Handarbeitsladen ‚Wolllust‘ (wieder so ein herrlich symbolträchtiger Name) ein Mord geschehen ist. Offensichtlich ist weder das Landleben friedlich noch Handarbeit ungefährlich, beides zusammen kann zu fatalen Verstrickungen führen. Wie die Geschichte weitergeht, stellt sich am 16. November, dem Erscheinungstermin, heraus, und bei der Premierenlesung am 17. November 2022 um 20 Uhr im Pfarrsaal von St. Franziskus in Neufahrn an der Bahnhofstraße 34 A. Der Eintritt ist frei, Spenden gehen an das brasilianische Straßenkinderprojekt CAMM und wer mag, soll bitte sein Strickzeug mitbringen. Mit dieser Planung unterstreicht Ziegler einmal mehr, dass sie mit Esprit, fundiertem Wissen und verschmitztem Humor spartenübergreifend agiert, mag sein, die geschwätzige Verwandtschaft hat dafür den Grundstein gelegt.

Von Elisabeth Hoffmann

Foto: Ziegler  

Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom Juli/August 2022.
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