Yvo Fischer im Gespräch
Zum Internationalen Tag gegen Rassismus

In jedem Jahr steht das Thema am Internationalen Tag gegen Rassismus am 21. März 2022 besonders im Fokus. Yvo Fischer konnten wir Mitte Februar 2022 für ein Interview zum Thema Rassismus gewinnen. Fischer ist Musiker, Musiklehrer an verschiedenen öffentlichen Bildungseinrichtungen in Freising, zusammen mit Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler hat er die Patenschaft für „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ am Camerloher-Gymnasium übernommen.

Herr Fischer, Sie sind Pate für die Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage. Welche Gedanken und Gefühle hattenSie, als Sie gefragt wurden? Warum haben Sie sich dazu bereit erklärt und wie hat dies das Schulleben verändert?

Ich war sehr überrascht, aber fühlte mich vor allem sehr geehrt, dass die Schüler:innen mich mit so einer bedeutenden Aufgabe betrauen möchten. Trotzdem habe ich mir die Entscheidung nicht leicht gemacht und erst nach reiflicher Überlegung getroffen. Ich habe mich zum Beispiel gefragt, ob ich wirklich die richtige Person bin, ob man nicht jemanden mit mehr „Strahlkraft“ nach außen bräuchte? Aber zum einen konnte auch noch die ehemalige Landesbischöfin Susanne Breit-Keßler als Patin gewonnen werden und zum anderen finden sich unter den Pat:innen der deutschen Courage-Schulen viele Persönlichkeiten wie z.B. Hausmeister:innen, deren Bekanntheit sich zwar weitgehend auf die Schulfamilie beschränkt, bei denen aber genau diese unmittelbare Präsenz und direkte Ansprechbarkeit eben auch große Vorteile darstellen. Denn die Schüler:innen des Projekt-Seminars „Hate-Speech – wir halten dagegen“, die die Bewerbung um den Titel mitinitiiert haben, sind an mich herangetreten, nachdem im Vorfeld ich auf sie zugegangen war. Ich hatte von ihrem Vorhaben erfahren und gleich das offene Gespräch mit ihnen gesucht. Der darauf folgende wohlwollende Austausch von Erfahrungen und Sichtweisen ermöglichte allen Gesprächsteilnehmer:innen erhellende Perspektivenwechsel jenseits der jeweiligen Rolle, die einem der allgegenwärtige Rassismus zugewiesen hatte!

Als Pate haben Sie ja auch eine Vorbildfunktion. Ist es nicht sehr schwer dieser Aufgabe gerecht zu werden?

Einerseits ja, andererseits nein. Lassen Sie mich mit dem „Nein“ beginnen, weshalb es also eigentlich nicht schwer ist, der Vorbildfunktion gerecht zu werden. Nun, ich bin überzeugt: wenn wir Rassismus und andere Diskriminierungsformen erfolgreich bekämpfen wollen, brauchen wir eine gesunde Fehlerkultur. Wenn man denkt, man selbst sei niemals an der Reproduktion von Rassismen beteiligt – weder durch unbewusste Handlungen, noch durch unhinterfragt übernommene sprachliche Wendungen – dann hat man eigentlich schon verloren. Kein Mensch handelt und spricht zu jedem Zeitpunkt völlig vorurteilsfrei oder kann über Jahrzehnte manifestierte unbewusste Überzeugungen von heute auf morgen aus seinem Unterbewusstsein verbannen. Wer solch einem Irrglauben erliegt, der muss jede (Selbst-)Kritik am eigenen Handeln oder Sprechen abwehren, weil sie als ungerechtfertigter Angriff auf das positive Selbstbild gewertet wird. Und genau diese Abwehrhaltung nimmt man leider nur allzu gerne ein, wenn man erkennt oder darauf hingewiesen wird, dass sich in den eigenen Handlungen und Aussagen, der Rassismus versteckt hat. Diese vermeintliche Selbstverteidigung kann sehr schnell anstrengend werden, und zwar für alle beteiligten Seiten. Insofern erleichtert es letztendlich ungemein, wenn man lernt, die eigenen Fehler und Grenzen auch bezüglich Rassismus und anderer Formen der Diskriminierung zu akzeptieren. Vielzitiert, aber besonders bei diesen Themen nicht weniger wahr: Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung. Und damit wären wir auch schon beim „Ja“, weshalb es also doch schwer werden kann, der Aufgabe gerecht zu werden. Denn Selbsterkenntnis erfordert von einem besonders in Bezug auf die eigenen Privilegien, öfter seinen Standpunkt zu verlassen und das Gegenüber wirklich verstehen zu wollen. Aber genau dabei kann mir wiederum mein Gegenüber helfen, wenn wir uns wohlwollend und von Empathie getragen bei der gemeinsamen diskriminierungs- und rassismuskritischen Arbeit begegnen. In diesem Sinne verstehe ich unser Projekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Den Ausschlag für die Übernahme der Patenschaft gaben für mich letztendlich die Antworten von Schüler:innen an verschiedenen Freisinger Schulen auf meine Fragen nach Diskriminierungserfahrungen. Als z.B. eine Schülerin und ich darauf zu sprechen kamen, ob sie an der Schule schon einmal Rassismus erlebt habe, sagte sie: „Ja, eigentlich jeden Tag.“

Sind Diskriminierung und/oder Rassismus in einer so weltoffenen Stadt wie Freising überhaupt ein Thema?

Lassen Sie mich antworten, indem ich Ihre Frage in eine Aussage umformuliere: Ein Ort kann überhaupt nur weltoffen sein, wenn dort Diskriminierung im Allgemeinen und speziell Rassismus thematisiert werden. Andernfalls mutet man es allein den Leid Tragenden zu, sich damit auseinandersetzen zu müssen, was aus meiner Sicht jegliche Weltoffenheit ausschließt. Will man Weltoffenheit wirklich leben, muss man sich meiner Meinung nach erst gegenüber allen Menschen im nächsten Umfeld öffnen. Auch und vor allem den marginalisierten Gruppen der örtlichen Bevölkerung muss man sich zuwenden. Im Sinne der vorhin angesprochenen Selbsterkenntnis erfordert dies mitunter aber, erst einmal genau hinschauen und wirklich aktiv zuhören zu wollen: Wo sind die gläsernen Decken, die vor allem für privilegierte Menschen unsichtbar bleiben, die aber weniger privilegierte Freisinger:innen am privaten, schulischen, beruflichen oder wohnlichen Weiterkommen hindern? Genau hinschauen, das kann eigentlich fast jede:r, wenn man sich nur die richtigen Fragen stellt: Wer wohnt in meiner Gegend? Wer arbeitet in meiner Institution in welcher Abteilung und in welcher Position? Wer geht mit mir in die Schule? Wer nutzt unsere Bildungsangebote? Wer kauft im selben Einzelhandelsgeschäft? Und vor allem: wer tut all das nicht oder ist dabei nur unterrepräsentiert und hat dazu vielleicht noch Hindernisse zu überwinden, die mir bisher nicht aufgefallen waren?! Bei der Beantwortung dieser Fragen können wiederum Perspektivenwechsel und statistische Methoden hilfreich sein, selbst wenn entsprechende Studien noch unterfinanziert sind wie z.B. der erste deutsche Afrozensus. Für solch einen Erkenntnis gewinn muss aber auf der entsprechenden Bundes-, Landes- oder kommunalen Ebene erst der politische Wille vorhanden sein, auch ausreichend zu investieren.

Alltagsrassismen sind eine spezielle Ausprägung von Rassismus. Häufig sind diese Formen (…Namen, woher kommst du?, Zugang zum Club, Wohnungssuche, abwertende Blicke….) in Routinesituationen des Alltags eingebunden. Menschen, die diese Art von Rassismus ausüben, sind sich dessen oftmals nicht bewusst. Wie kann es gelingen solche Situationen aufzulösen und Menschen dafür zu sensibilisieren?

Ich bin mir gar nicht sicher, ob man überhaupt den Anspruch an sich haben sollte, solche Situationen vollends aufzulösen. Diese Aufgabe scheint mir in den meisten Fällen zu groß für die:den einzelne:n. Denn Rassismus ist wie die meisten Formen von Diskriminierung kein individuelles Problem, sondern ein strukturelles, das noch dazu seit mehreren Jahrhunderten weltweit gesät und gezüchtet wurde. In Form von Alltagsrassismen ernten wir dann eigentlich nur die mal kleinen, mal größeren Früchte, deren Bitterkeit fast ausschließlich die Betroffenen schmecken müssen. Mich selbst erwischt Alltagsrassismus meistens immer noch kalt und unvorbereitet. Es war am 11.11.2019 in einem Freisinger Restaurant. Die Närr:innen freuten sich noch über den Beginn der fünften Jahreszeit und beim Wort „Corona“ dachten die meisten an Leuchterscheinungen um Sonne oder Mond. Da sagte eine Stimme am Tisch hinter mir: „Ich vermiete keine Wohnung mehr an (…).“ Es folgte eine unscheinbare und gebräuchliche kolonialistische Wortzusammensetzung aus einer Rassifizierung und einer Herkunftszuschreibung, die sich auf den Großteil eines Kontinentes bezieht. Dieser Vermieter hatte also offensichtlich keine Scheu, deutlich hörbar die Absicht zu verkünden, in Zukunft Menschen zu diskriminieren, die er jenem Teil der Weltbevölkerung zurechnen würde, der über eine Milliarde Individuen zählt. In solchen Momenten bin ich so perplex, dass mir spontan keine passende Reaktion einfällt, mit der ich die Situation auflösen könnte. Aber vielleicht werden jetzt im Nachhinein einige Leser:innen dieses Interviews für rassistisch diskriminierende Verallgemeinerungen und deren strukturelle Auswirkungen z.B. auf den Freisinger Wohnungsmarkt sensibilisiert.

Wenn wir Menschen begegnen, dann beurteilen wir sie häufig aufgrund ihrer äußeren Erscheinungsmerkmale. Oft geht es dabei auch um ethnische Zuschreibungen aufgrund von Hautfarbe, Sprache oder Kleidung. Wie kann es uns gelingen Menschen in ihrer Vielfalt zu sehen und nicht eindimensional?

Das ist ein heikles Thema. Denn wenn wir heute von Vielfalt oder Diversität sprechen, dann denken wir häufig trotzdem in Schubladen, nur eben in sehr vielen. Vielleicht sollte man eher von Vielschichtigkeit sprechen. Sie haben es in Ihrer Frage im Grunde schon formuliert: menschliche Persönlichkeiten sind immer mehrdimensional. Um aber alle Facetten jedes Menschen wahrzunehmen, dem wir begegnen, fehlt uns meistens schlicht die Zeit. Denn wir leben in einer Gesellschaft, die ein hohes Maß an Komplexität und unüberschaubar viel menschliche Interaktion und Kommunikation von uns verlangt. Es gab z.B. ein Schuljahr, in dem ich Lehrer von knapp 300 Schüler:innen war. Wie soll man da der Vielschichtigkeit jedes einzelnen Individuums gerecht werden? Ich denke, im Umgang mit diesem Dilemma ist eine mögliche Strategie, sich weiterzubilden und sich so der lauernden Fallen und Fettnäpfchen bewusst zu werden. Dabei kann z.B. wissenschaftlich fundierte Ratgeberliteratur helfen, wie sie unter anderem von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes online kostenlos zur Verfügung gestellt wird.

Ende 2021 ist das erste Mal der Afrozensus erschienen. Es wurden 6000 Personen befragt. Er enthält detaillierte Angaben über Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen in Deutschland. Es haben 90 Prozent der Befragten angegeben, dass ihnen nicht geglaubt wird, wenn sie über Rassismus sprechen. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Oft wird der Rassismus gar nicht erkannt, weil Leute meinen, aus der eigenen Warte einen Sachverhalt objektiv beurteilen zu können. Aber der Rassismus ist da! Er versteckt sich sehr gut in fast jeder und jedem von uns! Werfen Sie z.B. einen Blick in den kostenlos downloadbaren Afrozensus. Solche wissenschaftlich fundierten und an eine breite Öffentlichkeit gerichteten Publikationen sind wichtige Angebote zur Weiterbildung und können den eigenen Horizont erweitern, indem sie einen Perspektivenwechsel ermöglichen. Den kann man aber manchmal auch lustvoll mit fein überlegtem Humor bekommen wie z.B. in den sehr empfehlenswerten Videos des Kollektivs „Datteltäter“.

Aktion in der Innenstadt
am 21.03.2022 von 14 bis 16 Uhr vor dem Bürgerbüro am Marienplatz verschenkt der Migrationsrat und die Interkulturelle Stelle Stofftaschen gegen Rassismus.

Rassismus als gesellschaftliche Praxis
Rassismus bezeichnet die Ausgrenzung und Benachteiligung von Menschen aufgrund tatsächlicher oder vermeintlicher Merkmale wie z. B. Hautfarbe, Herkunft, Sprache, Religion. Menschen werden dabei einer sich von der eigenen Gruppe unterscheidenden, homogenen Gruppe zugeordnet. Demnach stellt Rassismus eine soziale Praxis der Unterscheidung dar, die Gesellschaften strukturiert und Machtungleichheiten legitimiert. In dieser Ordnung erfahren bestimmte Menschen Abwertung, Ungleichbehandlung und Benachteiligung. Andere profitieren von dieser Praxis und erhalten so bestehende Privilegien.

Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom März 2022.
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