“Miteinander reden und nicht übereinander”
Interview mit der Integrationsbeauftragten Sina Hörl

Sina Hörl, studierte Soziologie mit Nebenfach Statistik an der LMU München und Sozialwissenschaftliche Konfliktforschung an der Universität in Augsburg und Lund (Schweden). Sie ist seit September 2018 Integrationsbeauftragte der Stadt Freising und seit April 2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Augsburg.

Sina, Du bist seit September 2018 Integrationsbeauftragte der Stadt Freising. Welche Aufgaben hast Du als Integrationsbeauftragte?

Grundlage meiner Stelle sind die Interkulturellen Leitlinien der Stadt Freising. Die Leitlinien wurden 2013 in einem teilhabeorientierten Prozess entwickelt und 2014 vom Freisinger Stadtrat verabschiedet. Mit den Leitlinien verpflichtet sich die Stadt Freising dazu, die interkulturelle Arbeit als Querschnittsaufgabe in Stadtverwaltung und Stadtpolitik zu verankern. Das Konzept zielt insbesondere auf die Förderung und Erhaltung des interkulturellen Zusammenlebens ab und gliedert sich in sieben Handlungsfelder: gesellschaftliche Teilhabe und Teilnahme, interkulturelle Orientierung und Öffnung, Abbau von Diskriminierung, Wohnen und Soziales, Kultur und Bildung, Sprachförderung und Jugend und Soziales.

Ich bin als Integrationsbeauftragte Ansprechpartnerin für alle Freisinger Bürger* innen mit und ohne Migrationsgeschichte. Neben meiner beratenden Funktion für alle Fachabteilungen der Stadtverwaltung in Fragen rund um Interkulturalität bin ich auch für die Koordination der interkulturellen Öffnung der Stadtverwaltung zuständig. Darüber hinaus verstehe ich mich als Netzwerkerin. Ein wichtiger Grundsatz meiner Arbeit ist das Miteinander reden und nicht übereinander.

Obwohl ich an der Interkulturellen Stelle Einzelkämpferin bin, fühle ich mich durch das große Netzwerk in der Stadt sehr gut unterstützt. Dieses Netzwerk ist der wohl wichtigste Baustein meiner Arbeit. Durch die Zusammenarbeit und den Austausch mit Freisinger Initiativen wird es erst möglich, bedarfsorientiert zu arbeiten. Im Austausch mit Menschen unterschiedlicher Herkunft wird erst deutlich, wo gerade Herausforderungen bestehen oder an welcher Stelle man genau ansetzen muss, um mit der Arbeit einen Mehrwert zu schaffen.

Darüber hinaus versuche ich gemeinsam mit unterschiedlichsten haupt- und ehrenamtlichen Akteur*innen durch Veranstaltungen und Projekte, wie den Aktionswochen „Zehntelsekunde“ und einem stetigen Angebot von Workshops, mehr Transparenz für Vielfaltsthemen zu schaffen. Dazu gehört auch eine stetige Öffentlichkeitsarbeit, die in enger Abstimmung mit unserer Pressestelle stattfindet.

Ziel der Stelle ist, die Teilhabe und Anerkennung von Menschen in ihrer Vielfalt in allen Lebensbereichen zu fördern.

Wo steht die Stadt Freising in Bezug auf Integration und Umgang mit Vielfalt?

Integration ist ein sehr umstrittener Begriff in der Migrationsdebatte. In den Freisinger Leitlinien wird beispielsweise gar nicht von „Integration“ an sich gesprochen, da diese Begrifflichkeit häufig auch so verstanden wird, dass „sich da jetzt mal die anderen, die zugewandert sind, also die Migrant*innen integrieren bzw. anpassen sollen“.

Integration ist aber eben ein gesamtgesellschaftlicher Prozess. Das möchte ich voranstellen; und so wird das Thema auch in der Stadt Freising angegangen. Um diesen Ansatz etwas klarer zu machen, hilft es, die wissenschaftliche Perspektive einzunehmen. Friedrich Heckmann, ein deutscher Soziologe, hat vier Dimensionen der Integration aufgestellt und unterscheidet zwischen struktureller, sozialer, kultureller und identifikatorischer Integration. Strukturelle Integration betrifft vor allem die Gegebenheiten in der Aufnahmegesellschaft, die so gestaltet sein müssen, dass eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen in den Kernbereichen unserer Gesellschaft möglich ist. Kernbereiche sind beispielsweise der Arbeitsmarkt, Bildung, Politik, Wohnen oder auch Gesundheit. An dieser Stelle wird schon deutlich, dass Integration eine Querschnittsaufgabe ist, die sehr viele Bereiche betrifft.

Auch aus diesem Grund streben wir in der Stadtverwaltung eine interkulturelle Öffnung aller Fachbereiche an, da kein Bereich völlig unberührt von Migration ist. Anzumerken ist, gesellschaftliche Teilhabe braucht zwei Ebenen: Bereitschaft und Offenheit. Mit Bereitschaft meine ich, dass Menschen grundsätzlich dafür bereit sein müssen, sich einzubringen. Vielen Menschen ist das gerade in der ersten Zeit des Ankommens gar nicht möglich, weil so viele neue Eindrücke auf einen einwirken, man ist damit beschäftigt das erstmal zu verarbeiten. Teils kämpfen Menschen mit Unsicherheiten und Belastungen, die das Ankommen in der Aufnahmegesellschaft erschweren, v.a. betrifft das Menschen mit Fluchterfahrungen. Außerdem ist eine Grundvoraussetzung für die Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe eine Offenheit der Aufnahmegesellschaft, Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen quasi die Türe zu öffnen und Teilhabe zu ermöglichen. Wir als Stadt versuchen hier mit unterschiedlichen Projekten einzuwirken, Öffentlichkeit für das Thema herzustellen und Begegnungen zu ermöglichen. Beispiele hierfür sind der Migrationsrat im Agenda21- und Sozialbeirat oder auch interkulturelle Veranstaltungen, die wir organisieren oder unterstützen.

Diese Voraussetzung der „offenen Tür“ hängt aber auch ganz stark von der sozialen Integration ab. Diese betrifft unsere Freundschaften, Mitgliedschaften in Vereinen, Kontakte in der Nachbarschaft und so weiter.

Denn häufig sind Einzelpersonen die Tür.ffner* innen in bestimmte Bereiche. Das Netzwerk ist also enorm wichtig. In Freising haben sich viele dieser Netzwerke etabliert, sowohl auf hauptamtlicher und auch ehrenamtlicher Ebene. Es gibt Expert* innen, sogenannte Migrationsberatungen, die Menschen beim Ankommen in Freising unterstützen, weitervermitteln und praktische Tipps geben. Aber auch Initiativen wie das Müttercaf., die Frauen im Dialog, der Interkulturelle Garten oder die Asylhelferkreise sind hier zu nennen, die mit ihrem stetigen Angebot den Austausch zwischen Menschen fördern.

Mit der kulturellen Integration sind schließlich Wertvorstellungen gemeint und die letzte Ebene betrifft das Zugeh.rigkeitsgefühl zu einer Gesellschaft, in unserem Fall könnte man hier von einer kommunalen Identität sprechen. Das Gefühl Freisinger*in zu sein und gleichsam das Gefühl Teil einer Stadtgesellschaft, einer Gemeinschaft zu sein. Hier möchte ich auch noch in nächster Zeit ansetzen und überlegen, wie diese kommunale Identität weiter gestärkt werden kann.

Zwei wichtige Punkte möchte ich aber noch anmerken. Wenn wir von Integration sprechen, wird häufig der klassische „Migrationshintergrund“ in den Mittelpunkt gestellt. Wie auch schon in der Frage angedeutet, sind aber auch Menschen denen ein sogenannter „Migrationshintergrund“ zugeschrieben wird, vielfältig und sollten nicht nur eindimensional wahrgenommen werden. Alle Menschen und alle Freisinger*innen sind vielfältig. Wir unterscheiden uns voneinander. Sei es aufgrund unseres Alters, unserer Religion, unserer sozialen und ethnischen Herkunft, unserer sexuellen Orientierung, unseres Geschlechts oder auch unserer physischen und psychischen Ausstattung. All diese Ebenen machen uns als Menschen aus und auch in der klassischen Integrationsarbeit ist es wichtig diese Ebenen mitzudenken. Darüber hinaus ist die Migrationsfrage auch immer eine Klassenfrage: Welche sozioökonomischen Voraussetzungen hat ein Mensch? Es ist wichtig, anzuerkennen, dass Menschen mit unterschiedlicher Herkunft hier leben, gleichzeitig ist es aber auch wichtig zu zeigen, dass integrative Maßnahmen letztlich auch immer einen gesamtgesellschaftlichen Charakter haben und durch den Abbau von Zugangsbarrieren alle Menschen mit und auch ohne Migrationshintergrund profitieren können. Integration geht uns also alle etwas an!

Abschließend möchte ich sagen, dass es viele gute Ansätze in der Stadt Freising gibt, die gesellschaftliche Teilhabe voranzutreiben.

Wie viele Kommunen, sind wir aber noch nicht da, wo wir hinwollen. Ein Teilbereich dessen ist beispielsweise die gezielte Personalgewinnung von Menschen mit Migrationsgeschichte im öffentlichen Dienst, die aber durchaus bereits im Fokus des städtischen Personalamtes steht. Außerdem auch die intensivere Auseinandersetzung mit Serviceleistungsbereichen, also den Bereichen, die in direktem Kontakt mit den Bürger*innen sind. Hier braucht es ein gutes und durchdachtes Konzept und den Austausch mit der Freisinger Stadtbevölkerung. Das sind Teile der interkulturellen Öffnung, die in den nächsten Jahren verstärkt angegangen werden sollen.

Die Migrationsbewegungen in den letzten Jahren bringen Herausforderungen mit sich, inwiefern beeinflussen die jüngsten politischen Entwicklungen Deine Arbeit?

Mit 2015 hat sich die Arbeit natürlich verändert. Flucht ist wieder mehr ins Zentrum gerückt und auch der aktuelle russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist natürlich Thema. Allerdings sollten speziell die Fluchtbewegungen 2015, die ja gemeinhin als „Krise“ bezeichnet werden, nicht derart hervorgehoben werden, da es auch zuvor schon große Fluchtbewegungen nach Deutschland gab, beispielsweise aus dem ehemaligen Jugoslawien. Mir ist klar, dass wir hier von einer anderen Dimension sprechen, dennoch sind Migration und Flucht nicht erst seit 2015 ein Thema, sondern schon immer da. Menschen bewegen sich über Landesgrenzen hinweg und verlagern ihren Lebensmittelpunkt, das ist so und das wird sich wohl auch nicht ändern. In den letzten Jahren sind vor allem die Themen Rassismus und Diskriminierung vermehrt in den Fokus geraten.

Ich finde es gut, dass es dazu einen vermehrten Austausch gibt und vor allem auch Betroffene sich zu Wort melden und so das Thema eine ganz neue Dynamik bekommt.

Nur ungern stelle ich in meinem Fachbereich eine Kosten-Nutzen-Analyse auf, aber häufig ist das ein Aspekt der viele Menschen zum Nachdenken bewegt. Fakt ist: Deutschland braucht Zuwanderung. Nicht erst die Corona-Krise hat den Fachkräftemangel in Deutschland offengelegt. Auch in den Bereichen KITA und Schulen werden dringend Kräfte benötigt. Laut Prognosen wird sich dieser Mangel auch noch weiter zuspitzen. Auch im Wirtschaftssektor haben wir viele offene Stellen, da braucht es Menschen, die diese Lücke schließen. Wir brauchen Zuwanderung und müssen diesen Menschen gute Arbeits- und Ausbildungschancen geben. Es gibt viele Initiativen, die sich auch darum bereits über Jahre hinweg bemühen und diesen Notstand anmahnen. Da muss vor allem natürlich politisch gehandelt werden.

Die Teilhabe von Bürger*innen mit Migrationsgeschichte zu fördern ist eine der vordringlichsten Aufgaben. Gibt es dazu Konzepte, Strategien und praktische Ansätze in der Stadt?

Wie bereits eingangs erwähnt, gibt es die Interkulturellen Leitlinien, die der Stadt eine Art Rahmen und Leitbild geben. Die gesellschaftliche Teilhabe und Teilnahme ist hierbei ein Kernthema, das in alle Lebensbereiche strahlt. Es braucht vor allem Öffentlichkeit für diese Themen und die Menschen, die sich dafür einsetzen. Deshalb finde ich es super, dass auch der FINK als das Freisinger Stadtmagazin unterschiedlichen Menschen rund um das Thema Migration eine Plattform gibt.

Auch in der „Zehntelsekunde“ war es uns ein Anliegen, unter anderem auch das Thema Migration in den Vordergrund zu rücken und die Möglichkeit zum Austausch hierzu zu geben. Eine sehr wichtige Initiative ist außerdem der Migrationsrat, der an die Agenda21 angebunden ist. Zu den Sitzungen können alle interessierten Bürger*innen kommen, Themen einbringen und gemeinsam an unterschiedlichen Projekten arbeiten. Ein Projekt, welches vom Migrationsrat initiiert wurde, ist der „Interkulturelle Preis für Vielfalt“ in Freising. Dieser wurde erstmals 2021 vergeben und hat wichtige Freisinger Initiativen geehrt, die sich bereits seit Jahrzehnten für das Miteinander in unserer Stadt einsetzen. Gewonnen hat der ATF e. V. der in Freising, neben vielen weiteren Projekten, schon seit vielen Jahren das Afrikafest veranstaltet. Der Preis soll alle zwei Jahre vergeben werden, nächstes Jahr ist es also wieder soweit.

Was denkst Du, warum ist Freising eine lebenswerte Stadt für Menschen mit ihrer Vielfalt?

Ich persönlich bin immer wieder überrascht darüber, wie viele Vereine und Initiativen es in unserer Stadt gibt, die sich für ein lebenswertes und vielfältiges Freising einsetzen. Dieses Engagement finde ich ganz besonders bemerkenswert. Viele Freisinger Bürger*innen sind sich dessen gar nicht bewusst. Das erlebe ich immer wieder am Interkulturellen Walk, den wir in Zusammenarbeit mit der Domberg-Akademie und dem Kreisbildungswerk Freising anbieten. Meral Meindl, eine Sprecherin des Migrationsrates, führt die Teilnehmenden an unterschiedliche Stationen des interkulturellen Freisings. Immer wieder sind die Teilnehmenden begeistert von den vielen engagierten Menschen, denen wir auf unserem Walk begegnen. Wir haben eine bunte und aktive Stadtgesellschaft und schon alleine die macht Freising zu einer lebenswerten Stadt.

Wenn Du Dir Freising 2030 vorstellst. Was sollte sich bis dahin verändert haben und woran wirst Du in den nächsten Jahren weiterarbeiten?

Ich wünsche mir für die Stadt noch mehr Orte der Begegnung. Es gibt viele schöne Ecken in Freising, nicht nur in der Innenstadt, die einfach noch mehr belebt werden müssen und als Treffpunkte genutzt werden sollten. Orte, an denen man mit Menschen in Kontakt tritt, die man sonst vielleicht nicht im Alltag treffen würde. Ich wünsche mir Straßenfeste und viel (Inter-) Kultur. Und eine Freisinger Stadtgesellschaft, die allen Menschen mit ihren unterschiedlichen Lebensrealitäten mit Offenheit begegnet und Lust daran hat andere Perspektiven kennenzulernen. Dann lebt es sich gleich leichter und unbeschwerter.

Ich arbeite aktuell an einem Konzept zur Interkulturellen Öffnung der Stadtverwaltung und bin sehr gespannt, was sich in nächster Zeit dahingehend tun wird.

Außerdem wünsche ich mir, dass unser Netzwerk weiterwächst und viele Menschen dazukommen, die neue Ideen einbringen. Dafür können sich gerne alle Interessierten an die Mailadresse interkulturell@ freising.de wenden.

Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom September 2022.
In unserer Bibliothek können Sie diese und alle anderen Ausgaben der letzten Jahre online lesen.

zur Bibliothek...

weitere Artikel zu diesem Thema: