Liebe Leserinnen, liebe Leser, endlich ist die Sommerpause vorbei! In den letzten Wochen ist so viel passiert, dass ich ehrlich gesagt gar nicht weiß, wo ich mit dem Erzählen anfangen soll. Es soll ja Leute geben, die behaupten, dass ich öfter einmal Entspannungsphasen einlegen und mir mehr Ruhe gönnen sollte. Wozu denn bitte? Ich bin doch nicht hier auf dem Mutterschiff Erde, um Ruhe zu geben! Wenn ich irgendwann einmal im Holzkistl liege, dann habe ich genug Zeit, um mich zu entspannen. Bis dahin gibt’s Knallgas! Im Rahmen meines Studiums musste ich damals sogar an einem Entspannungskurs teilnehmen. Es waren die schlimmsten 60 Minuten meines Lebens! „Atmen Sie tief durch. Spannen Sie Ihr rechtes Bein an. Entspannen Sie es wieder. Spannen Sie Ihr linkes Bein an. Entspannen Sie es wieder.“ Wenn ich tief ein- und ausatmen und dabei abwechselnd meine Beinmuskulatur anspannen möchte, dann geh‘ ich zum Laufen! Wie dem auch sei! Ich bin dennoch gerne auch für neue Sachen offen. So habe ich erst vor kurzem gelesen, dass lockeres Wandern total entspannend für Körper und Geist sein soll! Also nicht laufen, sondern GEHEN. Als mir dann eine gute Freundin erzählt hat, dass sie sich zusammen mit drei ihrer Freundinnen auf einen 100km Marsch vorbereitet und im Rahmendessen einmal um den Starnberger Seemarschieren möchte, sah ich darin die perfekte Möglichkeit für mich, das mit dem „Gehen“ einmal auszuprobieren! Einfach entspannt wandern und die Naturgenießen. Kein Laufen, kein Quälen, kein Stress. Entschleunigung at its best! So kam es, dass ich zwei Wochen später pünktlich um 19 Uhr (es sollte eine Nachtwanderung werden) zusammen mit den Mädels auf einem Parkplatz am Starnberger See stand. Da mir eine Wanderung mit vier Mädels doch etwas zu entspannt vorkam, habe ich mir noch einen Rucksack mit 20 kg Marschgepäckaufgeschnallt. Meine Vermutung, dass es für mich zu viel Entspannung sein könnte, bestätigte sich noch am Parkplatz. Die Mädels starteten die Wanderung, so wie Mädels halt eine Wanderung starten –ganz klassisch mit einem kleinen Prosecco aus der Dose. Ich war mir nicht ganz sicher, was schlimmer sein würde. Das langweilige Gehen oder die Tatsache, dass ich die nächsten 12 Stunden mit vier Mädels verbringe. Ich stellte mich auf das Schlimmste ein! Eine Stundespäter hatten wir die ersten 4 km hinter uns gebracht. Eine Stunde für 4 Kilometer! Da hopse ich normalerweise auf der linken Arschbacke schneller. Aber wenn man sich auf den ersten Metern gleichzwei Mal verläuft (wohlgemerkt: es ging nur um den See rum) und nach 30 Minuten schon eine Pipipause braucht, dann dauert das Ganze halt etwas länger. Im Grunde war es für mich perfekt. Endlich hatte ich eine Möglichkeit, mich in Geduld zu üben. Ein Marathon? Kein Problem! Ein Ironman? Lächerlich! Wandern mit vier Mädels? Folter pur! Schon der Dalai Lama hat einmal gesagt: „Um Geduld zu erlernen, brauchst Du einen Gegner. “Den hatte ich jetzt! Aber ich bin mir sicher, dass dabei sogar dem weisen Mann aus Tibet irgendwann der Geduldsfadengerissen wäre! Jedoch habe ich mich jedes Mal, wenn mir der Gedanke in den Kopf kam „Was machst Du hier eigentlich?”(und dieser Gedanke kam sehr oft),wie ein Zen Meister mit gezielter Atemtechnik wieder runterreguliert. Meter für Meter haben wir uns fortbewegt und ich muss zugeben, dass ich immer entspannter wurde. Wenn man sich darauf einlässt, dann verfällt man irgendwann in einen „Ist-mir-alles-scheißegal-Modus“. Erschreckend, wie wurscht einem auf einmal alles ist. „Hey Mädels! Schaut mal nach links. Fällt Euch was auf? Das ist die Burg, an der wir vor 5 Minutenvorne vorbeigelaufen sind. Jetzt laufen wir hinten daran vorbei. Ich will ja nicht klugscheißern, aber mich beschleicht irgendwie das komische Gefühl, dass wir im Kreis laufen.“ Früher wäre ich hochgegangen! Ich wäre aus der Haut gefahren! Und jetzt? Jetzt habe ich mich einfach nur auf meine Atmung konzentriert und mir war alles egal!
In den folgenden Stunden ist nichts groß Erwähnenswertes passiert. Ein paar kleinere Prosecco-Pausen und tiefgründige Frauengespräche, bei denen ich mir manchmal etwas fehl am Platz vorkam. Aber im Grunde war es sehr entspannend. Zu entspannend! Irgendwann habe ich das stupide Gehen trotz Gepäck nicht mehr ertragen und dachte mir, dass es eine gute Idee sei, zwischendurch immer ein paar Liegestützen zu machen. Bei meinen Begleiterinnen erntete ich dafür nur ein müdes Kopfschütteln und die Worte „Du bist doch verrückt!“ Diese Anschuldigung konnte ich tatsächlich nicht entkräften. Aber wie heißt es so schön. „Sei verrückt! Versuch nicht, wie die anderen zu sein, denn Andere gibt es schon genug! “
Nach etwa 30 Kilometern, es muss etwa1 Uhr gewesen sein, spürte ich langsam, dass mein Gepäck von Meter zu Meter immer schwerer wurde. Selbstverständlich kann und darf man als einziger Mann in der Gruppe keine Schwäche zeigen! Mit einem selbstbewussten „Ist ja nur bissl Wandern“ habe ich den einsetzenden Schmerz unterdrückt. Aber auch in der Gruppe wurden die Gespräche von Stunde zu Stunde immer karger. Als dann bei den Mädels die Worte teilweise über mehrere Minuten komplettverstummten, fing ich an, mir langsam wirklich Sorgen zu machen. Mittlerweile begann es zu dämmern und wir hatten ziemlich genau 45 von den 52 Kilometern hinter uns gebracht. Warum ich das so genau weiß? Weil ich mich noch sehr gut an meine Worte erinnern kann, die eigentlich zur Aufmunterung der mittlerweile deutlich gesunkenen Stimmung angedacht waren. „HEY Mädels, nur noch7 Kilometer. Ich hätte es mir echt schlimmer vorgestellt. Gleich haben wir es geschafft! “Berühmte letzte Worte: „Gleich haben wir es geschafft!“ Es sollten die längsten 7 Kilometer meines Lebens werden! Der Rucksack schien sich schlagartig in Blei zu verwandeln. Die Oberschenkelwaren vor lauter Entspannung in einen Tiefschlaf verfallen und mein innerer Kampflöwe, auf den ich mich sonst immer verlassen konnte, wurde auf einmal zu Garfield. Auch die Gruppe hatte sich mittlerweile in seine Einzelteile aufgelöst. Mehr oder weniger im Wachkoma und unter noch nie erlebten Schmerzen habe ich die letzten 3 Kilometer in 45 Minuten(!) hinter mich gebracht. Ich wusste gar nicht, dass man so langsam gehen kann! Zu allem Überfluss kam mir dann auch noch ein etwa 70jähriger Jogger entgegen, der dort seine Morgenrunde drehte. Er war nicht wirklich schnell unterwegs, aber ich kann mich noch gut an meine Gedanken erinnern. „Was würde ich jetzt wohl dafür geben, um auch nur 15 Minuten in diesem Tempo laufen zu können! “Mit schmerzverzehrten Gesicht blickte ich über meine rechte Schulter und sah, wie die ersten Sonnenstrahlen des Tages den Morgennebel auf dem See durchbrachen und dabei sanft meine Haut wärmten. DAS ist Entspannung PUR!
Ich hätte es fast nicht für möglich gehalten, aber 52 km, mehrere Prosecco-Pausen und den ein oder anderen Umweg später, erreichten wir tatsächlich gegen 6:30 Uhr wieder den Parkplatz, von dem aus wir losgegangen waren. Am Ende bleiben ein heftiger Muskelkater und ein zufriedenes Lächeln, es überlebt zu haben! Ganz ehrlich: ich hätte mir Entspannung wirklich nie so anstrengend vorstellt!
Und die Moral von der Geschicht: Gehlieber laufen, dann entspannst Du Dich!
Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom September 2018.
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