Da bleibt nix übrig
Mindesthaltbarkeits-Datum abgelaufen und in den Abfall damit. Von wegen.

Die Ziegelgasse an einem sonnigen Freitag, Ende März. An dem kleinen Ecklokal zur Kirchgasse herrscht ein reges Kommen und Gehen. „Ich habe auf Instagram gelesen, dass es Schokolade gibt“ – so oder so ähnlich lautet der Satz, den Caro und Lukas heute oft zu hören bekommen. Vor allem junge Leute sind es, die zu Fuß oder per Rad kurz vorbeischauen, eine Suppe oder ein Stück Kuchen essen, ein paar Sätze wechseln und mit einer Tüte Pralinen, Schokolade oder Marzipan wieder abziehen. Neben dem Emblem des Spot Shops, der in dem Ecklokal als Nachhaltigkeitsladen seit 2019 residiert, hängen jetzt auch Plakate mit dem Aufdruck ‚Cafe Übrig‘.Lukas setzt sich zu mir auf die Bank vor dem Haus und erzählt: „Die meisten von uns kommen aus der Freisinger Foodsharing-Szene, aber einige unter uns wollten mehr tun. Übrige Lebensmittel abholen und an Bedürftige verteilen – das bedeutet auf Dauer ja nur an Symptomen herumzudoktern. Wir wollen das Thema Ressourcen-Verschwendung stärker in die Stadtgesellschaft einbringen, wollen längerfristig Bildungsarbeit machen und interessante Aktionen. Ideen dazu gibt es viele. Wir stellen uns auch einen Begegnungort vor, in dem man sich treffen kann, ohne etwas essen und trinken zu müssen und wo man ohne Bezahlung einen Kaffee bekommen kann.


Eine Idee ist geboren

‚Wir‘ – das waren zunächst einmal sechs junge Freisinger. „Als um den Jahreswechsel bei uns gegenüber ein Laden zu vergeben war, sind wir auf die Idee mit dem Café gekommen.“ Weil das dann doch zu spontan war, wurde stattdessen erst einmal der Verein Übrig e.V. aus der Taufe gehoben. „Dani, der den Spot Shop hier betreibt, kooperiert mit der Freisinger Foodsharing-Szene“ erklärt Lukas den Hintergrund. „Er hat unser Konzept so gut gefunden, dass er kurzerhand ein Regal für uns freigemacht hat und stellt uns den Laden jetzt Mittwoch, Donnerstag und Freitag von 10–14 Uhr und Samstag von 10–14 Uhr zur Verfügung.“ 15 Aktive teilen sich den Dienst im ‚Cafe Übrig‘.Im freigemachten ‚Übrig-Regal‘ lagern Tüten-Suppen, Tüten-Soßen, Tee, Pumpernickel-Brot, Schokolade und selbstgemachte Marmeladen aus diversen Kellern. Bei industriell hergestellten Produkten ist es das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD), welches das Ende für einen Verkauf im Laden vorgibt. Spätestens dann werden diese Lebens- und Genussmittel im Einzelhandel ausgesondert und landen im Müll – oder mit etwas Glück in Einrichtungen wie der Tafel oder im Cafe Übrig. „Das abgelaufene MHD sagt nur bedingt etwas über den Verderb eines Produktes aus“, erklärt Lukas. „Es ist lediglich der Termin, bis zu dem der Hersteller produkt-spezifische Eigenschaften garantiert. Beim Bier ist dies etwa die Schaumstabilität.“ Lukas hat Brauereiwesen studiert. „Es kommt bei MHD-Ware darauf an, die eigenen Sinne zu benutzen – zu schauen, zu riechen, zu schmecken und dann zu entscheiden. Bei empfindlicheren Lebensmitteln wie Wurst, Hackfleisch oder verpacktem Salat gibt es statt des Mindesthaltbarkeitsdatums ein Verbrauchsdatum. Anders als beim MHD sollten die Produkte nach Ablauf des Verbrauchdatums nicht mehr verspeist werden. Das Cafe Übrig gibt nichts aus, dessen Verbrauchsdatum abgelaufen ist. Lukas: „Wir würden als in-den-Verkehr-Bringer für Folgen haften.“


Tatkräftige Lieferanten

Giuseppina bringt freudestrahlend einen Topf Griesnockerl-Suppe vorbei und sortiert Gurken und Äpfel, die sie von einem Marktstand bekommen hat, in einen Kühlschrank. Ein überdimensionales Bund Kerbel ist auch dabei, dessen Blätter schon ein wenig müde aussehen. Caro und Giuseppina beraten, was sie daraus machen könnten. Suppe? Pesto? „Ein paar Flaschen Olivenöl und Parmesankäse müssten noch irgendwo auf Lager sein“, vermutet Caro, „damit ließe sich ein Pesto machen.“ Josephine freut sich über die Möglichkeit, übrige Lebensmittel zu verwerten. „Ich habe zwei Jahre lang ein Cafe betrieben, und es macht mir einfach Spaß, wieder für andere zu kochen und zu backen.“


Schokolade in rauen Mengen

Heute geht es aber vor allem um Schokolade in rauen Mengen. Weil nur zwei Kund*innen mit FFP2-Maske in den Laden dürfen, werden jetzt mehrere Kunststoffkisten voll mit Pralinen, Schokolade und Mozartkugeln nach draußen geschafft, damit sich die Interessierten dort bedienen können – und das tun sie reichlich! Lübecker Marzipan, Lindt-Pralinen, Reber-Mozart-Kugeln und vieles mehr – es sind edle Marken, und ich erfahre von Caro, was den Schoko-Boom und die große Nachfrage ausgelöst hat. „Die Handelsgesellschaft, die die Versorgung aller Duty-Free-Läden am Flughafen übernimmt, hat jene Schokoprodukte aussortiert, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist und sie uns angeboten.“ Welche Menge, will ich beiläufig wissen. „1,5 Tonnen“, ist die Antwort, „1500 Kilogramm. Es ist während der Corona-Zeit kaum etwas verkauft worden. „Wie habt ihr das alles hergebracht? Mit 25 Autos, von denen etliche mehrmals hin und hergefahren sind“, erzählt die junge Frau lachend, die bei Green City in München arbeitet. „Wir haben schon einmal eine Lieferung vom Flughafen bekommen. Aber das war der Hammer und ist der Renner.“


Kooperation mit der Tafel

Caro und ihre Mitstreiter*innen haben Schoki an caritative Einrichtungen und an die Tafel weitergegeben, aber 1,5 Tonnen sind eine große Nummer. Lukas scheint das Aufhebens um die viele Schokolade gar nicht so recht zu sein. Ihm geht es um die Botschaft und um die Fakten dahinter. „Wir kooperieren eng mit der Tafel, sind keine Konkurrenz. Während des ersten Lockdowns haben wir auch Tafel-Kund*innen beliefert, die nicht mobil sind“, erinnert er sich. „Es gibt rund 200 Foodsaver (Lebensmittel-Retter*innen) in Freising und mittlerweile etwa 20 Freisinger Kooperationspartner – Marktstände, Bäcker und andere Läden –, die regelmäßig übrige Ware zur Verfügung stellen.“ In der Hochschulgemeinde in der Hohenbachernstraße 9 gibt es schon seit 2016 eine Verteilerstation, Fairteiler genannt, in der übrige Lebensmittel anlanden und dort abgeholt werden können. Die Meldung über eine neue Lieferung verteilt sich über Social Media Kanäle wie Facebook und Instagram schnell. Ach ja – einen Spendentopf gibt es im ‚Cafe Übrig‘ auch. Und Spender*innen werden die Aktiven brauchen, wenn sie ihre Vorstellungen vom eigenen Lokal verwirklichen möchten.Ich trinke einen Kaffee aus dem Mehrwegbecher, werfe Geld in den Spendentopf und noch einen Blick in das ‚Übrig-Regal‘, wo mich die Sauerkirsch-Marmelade von Lukas Mutter besonders anlacht. ‚Sauerkirsche Juni 2018‘ steht darauf, und schon denke ich darüber nach, wie lange so manch Eingemachtes in meinem Keller lagert und nie mehr das Licht der Welt erblickt, obwohl es auch nach Jahren noch schmecken würde. Da kommt Lust auf, das ein oder andere Glas Bärlauch-Pesto und Rhabarber-Chutney in das Ecklokal an der Kirchgasse zu bringen und ganz nebenbei ein paar engagierte und interessante Menschen kennenzulernen.


Kreativität ist gefragt

Zwei Wochen später ist wieder bestes Wetter – als hätte es nie einen weiteren Wintereinbruch gegeben –, und vor dem ‚Cafe Übrig‘ wartet eine weitere kleine Attraktion in der Sonne. Ein Fahrrad ist so umgebaut, dass man beim Treten per Vorderrad einen Smoothie-Mixer antreibt. „Wir haben überreife Bananen und Milch bekommen und wollen Bananenmilch damit machen“, lautet die Ansage. Suule soll eine Runde radeln und die Zutaten im Mixbecher in Bananenmilch verwandeln. „Optimal funktioniert es noch nicht“, befindet der anwesende Erfinder Max. „Wir brauchen eine neue Mutter, dann können wir wieder voll durchstarten.“ Die Bananenmilch schmeckt trotzdem fein. Der Gewinner einer Bier-Verlosung holt sein gerettetes 5-l-Alu-Fässchen ab, und im Übrig-Kühlschrank lagern jetzt etliche Paletten mit gefärbten Ostereiern. Ich aber spekuliere auf eine weitere Sauerkirsch-Marmelade von Lukas Mutter, die köstlich geschmeckt hat. „Wo findet man euch im Mai, wenn der Artikel im Fink erscheint“, will ich noch wissen. „Wer will, findet uns“, sagt Lukas und grinst, „mit etwas Glück können wir in der Ziegelgasse bleiben.“www.übrig.org Facebook: übrig instagram: wirlassennixuebrig

Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom Mai 2021.
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