Mitten in einer großen Veränderung in ihrem Leben hat sich Chiara van Willigen Zeit für uns genommen. Sie ist dabei, sich nicht nur die Anzahl der Quadratmeter ihrer Wohnung zu verkleinern, sondern sich auch insgesamt noch mehr zu fokussieren: Sie hat nach 25 Jahren ihren Job in einem internationalen Unternehmen aufgegeben und will sich fortan ganz besonders dem Coaching von Kindern widmen, um damit einen Beitrag gegen Mobbing und für bessere Interaktion zu leisten.
Chiara, alles Gute für Sie und die besten Wünsche dafür, dass 2023 viele positive Entwicklungen für Sie bereit hält. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war Ihre Begegnung mit dem Projekt „Stark auch ohne Muckis“ …
Ja. Als ich beschlossen habe, mich selbständig zu machen, habe ich mich bei „Stark auch ohne Muckis“ als Trainerin ausbilden lassen. Das Projekt gibt es seit 2003 in Deutschland und es wurde von einem Erzieher ins Leben gerufen, der gemerkt hat, dass es spezielle Kurse braucht, um Gewalt und Mobbing entgegen zu wirken. Ich war sofort von seiner Idee begeistert. Mobbing fängt schon damit an, dass wir nicht richtig gelernt haben, wie wir Konflikte lösen können. Als ich dann angefangen habe, mit Kindern zu arbeiten, habe ich gesehen, wie wissbegierig die sind und wie schnell sie ein Gefühl dafür entwickeln können, einen Konflikt zu beenden oder gar nicht in einen einzusteigen.
Für welche Altersgruppen ist das Projekt geeignet?
Ich fange an mit Vorschulkindern, für die ich ein spezielles Konzept entwickelt habe. Es heißt „Fit für den Pausenhof“ und soll Kinder stärken, wenn sie von der Kita in die Schule wechseln. Die gehen ja als die ganz Großen raus aus der Kita und fangen in der Grundschule wieder als die Kleinen an und müssen wieder lernen, sich zu behaupten. Die Methode, die ich benutze, ist sehr interaktiv. Wir fangen immer damit an, dass wir uns unserer Körperhaltung bewusst werden und erfahren, warum man mit einem bestimmten Auftreten eher eskaliert bzw. mit welcher Körperhaltung ich selbstbewusst in einen Streit rein gehe.
Das sind Dinge, die wir ja alle üben können …
Die Kinder üben zum Beispiel, wie sie sich verhalten können, wenn ihnen etwas weg genommen wird oder wenn sie angegangen werden. Sie merken dann, dass es möglich ist, eine Situation unter Kontrolle zu halten ohne wütend zu werden. Und ja, das müssen sie üben, weil es nicht natürlich ist oder weil der erste Reflex ja ein anderer ist.
Sie bieten „Stark auch ohne Muckis“ zum Beispiel in Schulen an – wie reagieren denn Lehrerinnen und Lehrer auf das Projekt?
In der Regel sehr sehr positiv, weil auch sie merken, dass man mit einfachen Methoden sehr viel erreichen kann und ich höre von sehr vielen, dass sie solche Dinge in ihrer eigenen Ausbildung nicht gelernt haben. Oft haben sie auch nicht die Ressourcen, sich längerfristig mit solchen Konfliktsituationen zu beschäftigen.
Der Projektname verweist ja auf körperliche Angriffe, die vermieden werden sollen. Haben Sie die Erfahrung gemacht, dass solche schon bei so kleinen Kindern stattfinden und problematisch werden?
Ja, einfach, weil Kinder noch nicht gelernt haben, welche Macht Worte haben. Sie merken zwar, dass es ihnen weh tut, wenn sie beleidigt werden, aber sie haben noch kein Gespür dafür, wie sie sich mit Worten wehren können.
Natürlich muss so ein spannendes Projekt wie Ihres auch finanziert werden, welche Möglichkeiten haben Sie gefunden, um Kindern ein solches Coaching zu ermöglichen?
Ich trete mit Schulen in Kontakt und stelle mein Projekt vor. Bei Interesse muss dann vor Ort eine Möglichkeit der Finanzierung gesucht werden. Es gibt Schulen, die haben für solche Maßnahmen ein bestimmtes Budget, andere arbeiten mit Fördervereinen, es kommt auch vor, dass die Eltern das bezahlen.
Wenden wir uns wieder dem großen Thema Mobbing zu: Sie haben ja sowohl mit Erwachsenen, als auch Kindern dazu gearbeitet. Was passiert, wenn ein Mensch als Kind gemobbt wurde, geht das immer so weiter?
Ja, oft haben Menschen ein Leben lang an dem Thema Selbstbewusstsein zu knabbern oder sie bleiben insgesamt in ihrem Opferverhalten. Was aber leider auch passiert: Oft werden Gemobbte selbst zu Mobbern, weil sie auf irgendeine Art und Weise ihren Schmerz loswerden wollen.
Was unternehmen Sie als Erstes, wenn Sie erkennen, dass Sie es mit einem Mobbinggeschehen zu tun haben?
Als Opfer oder als Täter?
Sowohl als auch.
Ich versuche als Erstes heraus zu finden, was in der betreffenden Person vorgeht und wodurch sie getriggert wird. Erst wenn man verstanden hat, welche Dynamik zwischen zwei Personen entstanden ist, kann man eine Lösung finden.
Ich hatte Sie vorher schon gefragt, wie Lehrerinnen und Lehrer auf Ihr Projekt reagieren. Wie ist es denn bei Verantwortlichen im Erwachsenenbereich, gibt es da mittlerweile ein Bewusstsein für die Dramatik, die Mobbing entwickeln kann?
Ab dem Moment, wo Menschen, mit denen ich arbeite, eine Lösung an die Hand bekommen, entsteht in der Regel eine riesige Erleichterung und die Leute sind froh darüber, dass sie endlich etwas haben, mit dem sie arbeiten können. Aber das müssen sie dann auch weiterhin tun. Wenn man so eine komplette Mobbingsituation auflösen will, ist es nicht mit einem Ein- Tages-Training getan oder mit ein paar Stunden.
In der Konfliktlehre gibt es ja die Auffassung, dass Konflikte ab einem bestimmten Punkt nicht mehr von den Beteiligten alleine gelöst werden können. Wenn Sie zum Coaching gebeten werden, ist das vermutlich ja erkannt. Haben Sie denn den Eindruck, dass diese Erkenntnis dennoch oft viel zu spät kommt?
Ja. Es kommt auch oft vor, dass tatsächlich schon zu viel passiert ist und dann ist die Frage, ob es nicht besser ist, vielleicht einen Punkt zu machen und der Gemobbte besser in einer neuen Firma anfängt. Mit all dem im Gepäck, was er oder sie gelernt hat. Es ist ein wenig vergleichbar mit einer Beziehung: Man kann eine Beziehung vielleicht nicht mehr retten, aber man kann versuchen, dass man so gesund und so friedlich wie möglich auseinander geht. Manchmal ist die einzige Lösung ein Neuanfang, was auch keine Niederlage ist. Es bedeutet nur: Ich habe jetzt gesehen, dass es besser ist für mich, einen neuen Weg zu gehen.
Was haben Sie selbst aus Ihrer Arbeit gelernt?
Ich habe gelernt, wie einfach es ist, in solche Konflikte hinein zu kommen. Und wie oft man selbst in die Falle tappt, jemanden unbewusst auszugrenzen oder zu mobben.
Danke für die offenen Worte und nun: letzte Frage! Wenn Sie heute Ihr Leben mit einer Farbe beschreiben sollten – welche wäre das und warum?
Den Regenbogen. Ich bin halb Italienerin, halb Holländerin, meine Kinder haben drei Nationalitäten. Seit ich denken kann, werde ich konfrontiert mit den verschiedensten Kulturen und Ansichten. Es gibt so viele bunte Menschen auf der Welt, was würde da besser passen als ein Regenbogen? Und ich glaube noch immer daran, dass am Ende des Regenbogens ein Topf mit Gold wartet.
Interview: Birgit Mooser-Niefanger
Unsere Autorin trifft sich für den FINK mit interessanten Menschen zur „großen Fragestunde“ und hofft, heraus zu finden, was Menschen in ihrem Innersten bewegt. Die Fotos zur Serie macht Birgits langjähriger Freund und Kollege Franz Josef Kirmaier (das produktionshaus).
Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom Januar 2023.
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