Wir benötigen nur eine Zehntelsekunde, um uns ein Urteil über ein unbekanntes Gesicht zu bilden. Dieser erste Eindruck von einer Person beruht auf verschiedenen Aspekten wie zum Beispiel Aussehen, Körperhaltung, Mimik, Gestik, Geruch oder auch Klang der Stimme. Dabei spielen unsere Erfahrungen und die in uns vorherrschenden Stereotype eine große Rolle. Leider vermischen sich dabei auch unsere stillschweigenden Annahmen und nicht reflektierten Vorurteile. Und viel zu oft vergessen wir, dass jeder Mensch in sich vielfältig ist und pauschalisieren aufgrund eines bestimmten Merkmals.
Aber kann es sein, dass die Kategorisierung von Menschen dazu führt, weniger Möglichkeiten in ihrem Leben zu haben?
Kann eine „Zehntelsekunde“ zur Lebensbarriere werden?
Ja kann sie, wenn man bedenkt, dass eine Zehntelsekunde darüber entscheidet, ob man zum „Anderen“ gemacht wird oder nicht („othering“). Die „Anderen“ werden mit vermeintlich typischen Eigenschaften versehen und reduziert oder auch abgewertet. Reduziert in Bezug auf Herkunft, Religionszugehörigkeit, Hautfarbe, Nationalität/ Pass, zugeschriebener Kultur, sexueller Identität, körperlicher Fähigkeit, sozialen Status, Bildungshintergrund oder Erstsprache. Häufig lösen unbewusste Assoziationen und stereotype Zuschreibungen Vorbehalte aus, die entscheiden, ob jemand das Bewerbungsgespräch für eine Wohnung oder eine Arbeitsstelle bekommt. Immer wieder auf ein Merkmal reduziert zu werden, drängt Menschen in die Außenseiter*innenrolle, obwohl alle die Chance zur Teilhabe in der Gemeinschaft haben wollen. Der Bruchteil einer Sekunde entscheidet somit darüber, wie man wahrgenommen wird, ob man als zugehörig gesehen und behandelt wird. Dabei entsteht auch eine Wechselwirkung auf einen selbst, der über die positive oder negative Eigenwahrnehmung entscheidet.
Wie können wir heute mit Vielfalt anders umgehen?
In einer von Vielfalt geprägten Gesellschaft sollten wir lernen, Unterschiede mit Maß zu thematisieren und das „Othering“ zu vermeiden. In Gesprächen kann man sich auf Gemeinsamkeiten besinnen und andere Lebensperspektiven als gleichwertig sehen. Die eigene Normalitätsvorstellung – zum Beispiel welches Bild habe ich von Frauen, die ein Kopftuch tragen, oder wie sieht jemand mit „deutschen Wurzeln“ aus? – sowie eigene Denk- und Handlungsmuster zu hinterfragen, kann zu einem Perspektivenwechsel führen. Dazu gibt es insbesondere bei der „Zehntelsekunde“ viele Gelegenheiten.
Welche Aktivitäten finden in der „Zeit für Vielfalt in Freising“ statt?
Die Interkulturelle Stelle und das Kulturamt der Stadt Freising zeigen unter Mitwirkung des Migrationsrats des Agenda21- Sozialbeirats Filme, die Themen der Vielfalt aufgreifen. Als Einstimmung kann jeweils vor den Filmaufführungen die Ausstellung „Erinnerungen – Hatiralar“ besucht werden. Diese greift vom 10. bis 22.05. die sogenannte Gastarbeiteranwerbung aus der Türkei auf. In persönlichen Geschichten wird die Aussage „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“ von Max Frisch aus dem Jahr 1965 lebendig und es zeigt sich deutlich, wie sehr auch die Freisinger Stadtgeschichte von Zuwander*innen geprägt ist.
Der Migrationsrat Freising beteiligt sich auch an weiteren Veranstaltungen, die stillschweigende Annahmen und Vorurteile aufzeigen und Vielfalt mit all ihren Dimensionen als Bereicherung für die Stadtgesellschaft in den Vordergrund rücken.
5.05. bis 22.05.: Ausstellung zu Geflüchteten in ANKER-Zentren im Café Hinterhof
08.05.: Buchvorstellung „Verfemt-Verfolgt- Vernichtet“ von Guido Hoyer im Alten Hallenbad
09.05.: Vortrag und Diskussion „Migrant*innen – Pionier*innen einer neuen Vielfalt“ im Rathaus
18.05.: „Lasst uns reden!“ – Stadtgespräch zu Migration im Stadtcafé
Die Veranstaltungen laden ein, sich den Themen Migration, Integration, Ankommen und Bleiben anzunähern und sich einzubringen. Somit werden Geschichten aus der Vergangenheit zu Erlebnissen in der Gegenwart.
Das „Alte Hallenbad“ lädt ein, im Lichtspiel zu baden.
Orte, die fast vergessen sind, wieder zu beleben ist nicht einfach. Erzählen Sie doch Geschichten aus Zeiten, die entweder schon vergessen sind oder an die man sich nicht mehr erinnern kann oder will. Das alte Hallenbad an der Jochamstraße in Freising – ums Eck beim Josef-Hofmiller Gymnasium – öffnet, wenn auch nur für eine kurze Zeit, seine Türen, um im Rahmen der „Zeit für Vielfalt in Freising“ ein Ort für Veranstaltungen zu sein, der Vergangenheit und Gegenwart zusammenbringt. In diesen Zeiten ist dies wichtiger denn je.
von Meral Meindl, Sprecherin Migrationsrat Freising
Fotos: FEIN/Stefan Steinberger
Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom Mai 2022.
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