10.000 Schritte zum Glück
Willens-Sache. Eine Kolumne von Florian Wildgruber

Sind Sie, liebe Leserinnen, liebe Leser, heute schon Ihre 10.000 Schritte gelaufen? Nein? Dann sollten Sie das wirklich dringendst nachholen! Habe ich doch vor kurzem nämlich genau darüber einen Artikel in einer renommierten Fachzeitschrift gelesen. Ob es die Bunte oder die Freundin war, kann ich Ihnen leider nicht mehr genau sagen. Dort wird explizit beschrieben, wie sich durch die banale Tätigkeit, täglich 10.000 Schritte zu gehen, nicht nur Ihre Gesundheit, sondern sogar Ihr ganzes Leben verändern wird. Schlanker, gesünder, zufriedener! Da sucht man Zeit seines Lebens nach dem Glück und dem Sinn und dann braucht es nichts weiter, als einen Fuß vor den anderen zu setzen. Faszinierend, wie ich finde, aber irgendwie auch ziemlich enttäuschend, weil doch so banal. Im Allgemeinen steigt in unserer Gesellschaft das Bewusstsein für Gesundheit immer weiter an. Wir sind zu wahren Meistern der Selbstoptimierung geworden. Fitness-Studios platzen, ähnlich wie viele ihrer Mitglieder, aus allen Nähten. Ausgefallene Ernährungsformen liegen total im Trend und Fitness-Apps bestimmen unsere Bewegungsgewohnheiten. Erst letzte Woche habe ich genau darüber mit einem jungen Mann, schätzungsweise Mitte 30, gesprochen. Kennen Sie das, wenn Sie mit jemandem einen Smalltalk anfangen und bereits eine Minute später bereuen, dass Sie genau das gemacht haben? Naja, wie dem auch sei. Voller Stolz hat er mir seinen Tagesablauf inklusive seiner Ernährungsphilosophie detailliert geschildert.

In der Früh nach dem Aufstehen gibt es bei ihm erst einmal einen selbstgemachten Smoothie. Bananen, Spinat, Äpfel, Brennnessel, Chiasamen und einen kleinen Schuss kaltgepresstes Leinöl werden zu einer undefinierbaren schleimigen Masse vermixt. „Warum eigentlich mixen?“, frage ich nach. „Man spart sich extrem viel Zeit, für den Magen ist es viel bekömmlicher und gesund ist es auch noch!“, predigt er mir. Vielleicht mixt er es auch einfach nur deswegen, weil es sich danach deutlich einfacher wieder kotzt, denke ich mir insgeheim. Wenn man ihm so zuhört, könnte man meinen, dass die Vitamine nach diesem Gebräu in seinem Körper Salsa tanzen. Gleich im Anschluss an die Vitaminbombe gibt es übrigens noch einen kleinen Kaffee, natürlich Bulletproof. Alles, was man dafür braucht, ist schwarzer Kaffee, Butter und Öl. „Das hilft beim Abnehmen, liefert Energie und schärft den Fokus“, erklärt er mir. So hat er es zumindest von einem der 82 Millionen deutschen Ernährungsblogger gelesen. Dann muss es ja stimmen! Zugegeben, langsam amüsiert es mich, ihm zuzuhören, wenn ich mir vorstelle, wie er in seiner Küche Miraculix spielt, die verschiedensten Zutaten zusammenrührt und sich diese Flüssigkeiten dann unter heftigem Würgereiz einverleibt. Nein, ich weiß: Das ist gesund. Man muss es sich einfach nur oft genug sagen. Während er sich den letzten Schluck seiner Kaffeeplörre runterpresst, fängt auf einmal sein Fitness-Tracker am Handgelenk zum Vibrieren an. Zeit für Bewegung! 10.000 Schritte sind das Tagesziel. Schnell werden noch ein paar Arbeitssachen zusammengepackt, bevor es dann mit dem Hooverboard, einer Art elektronischem Skateboard, in die Arbeit geht. Da es an diesem Vormittag am Schreibtisch wie immer sehr stressig ist, lautet die magere Zwischenbilanz um 12 Uhr: 126 Schritte. Das halbstündige Vibrieren seines Trackers, als Zeichen, dass er sich wieder bewegen müsse, konnte er zum Glück mit gezielten Schüttelbewegungen aus dem Handgelenk austricksen. Da er sich mit seinem Frühstücks-Smoothie bereits 1500 % der empfohlenen Tagesdosis an Vitaminen einverleibt hat, muss nun Eiweiß zugeführt werden. Funktionelle Ernährung nennt man das. Aber doch nicht etwa in Form eines Steaks oder Schnitzels, ich bitte Sie! Wie in einer schlechten Teleshopping- Sendung zaubert er unter seinem Schreibtisch ein Plastikgefäß hervor. „Meinen Eiweißshaker habe ich immer dabei“, berichtet er ganz stolz. „Den bereite ich mir in der Früh schon vor und da ist alles drin, was mein Körper gebraucht. Aminosäuren, sekundäre Pflanzenstoffe und Omega3-Fette. Einfach Wasser dazu und fertig.“ Ich weiß: „Da spart man sich so viel Zeit!“ Das Angebot einiger seiner Arbeitskollegen, nach Feierabend noch einen kleinen Abstecher an den See zum Grillen zu machen, lehnt er dankend ab. Schließlich wartet jetzt noch das Fitness-Studio auf ihn, denn von den 10.000 Schritten hat er um 17 Uhr gerade einmal 324 geschafft. Den Kilometer bis zum Fitness-Studio legt er natürlich auf seinem hippen, elektronischen Fortbewegungsmittel zurück, um dann mit dem Aufzug in den ersten Stock zu fahren und sofort auf den Hillclimber zu springen. „Ein tolles Gerät. Das simuliert das Treppensteigen! Es ist zwar langweilig, aber super effektiv!“, berichtet er mir voller Überzeugung. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was man an einem Gerät, das aktiv verhindert, dass man von der Stelle kommt, so toll finden kann, aber gut, vielleicht verstehe ich es einfach nicht. Nachdem er die restlichen 9.676 Schritte auf diesem Gerät absolviert hat, geht’s endlich nach Hause. Da es bereits nach 18 Uhr ist, darf er nichts mehr essen, denn er macht gerade intermittierendes Fasten. Das ist der neueste Schrei! Super gesund und, ja Sie ahnen es bereits: man spart sich total viel Zeit! Mit etwas gedämpfter Stimmung sitzt er den restlichen Abend alleine zu Hause und schaut sich auf Instagram und Facebook die tollen Fotos vom Sonnenuntergang beim Grillen an, die seine Arbeitskollegen dort gepostet haben. Pünktlich um 22 Uhr geht er dann ins Bett, denn laut einer aktuellen Gesundheitsstudie verlängert es das Leben um bis zu 5 Jahre, wenn man sich mindestens zwei Stunden vor Mitternacht Schlafen legt. Ich bin fasziniert, wie viel Zeit man sich im Leben sparen kann! Wann und wo kann man die eigentlich einlösen?

Vor ein paar Tagen habe ich folgendes Zitat des Oscar-Preisträgers Sir Anthony Hopkins gelesen: „Niemand von uns kommt hier lebend raus. Also hört auf, Euch wie ein Andenken zu behandeln. Esst leckeres Essen. Geht in der Sonne spazieren. Springt ins Meer. Sagt die Wahrheit und tragt Euer Herz auf der Zunge. Seid albern. Seid freundlich. Seid komisch. Für alles andere habt Ihr keine Zeit.“ Das soll sicherlich kein Ansporn für ein Leben in Völlerei sein, aber es soll definitiv ein Fingerzeig sein, diesem Gesundheits- und Optimierungswahn endlich ein Ende zu setzen. Ausreichend Bewegung, vernünftiges Essen und angemessener Schlaf ist die eine Sache, aber eine groß angelegte Harvard-Studie hat einen weiteren Gesundheitsfaktor ausfindig gemacht, der immer mehr vernachlässigt wird: gute Beziehungen zu anderen Menschen (Nein, Social-Media zählt nicht dazu). Diese Beziehungen sind für die Gesundheit zuträglicher als gesundes Essen, Bewegung und Schlaf zusammen. Das bedeutet, dass ein Grillabend mit guten Freunden für die Gesundheit wichtiger ist, als wenn man am Abend alleine zu Hause sitzt und sich Chiasamen-Pampe mit kaltgepresstem Leinsamenöl reinstopft. Undum auf den Vergleich mit Gesundheit und Zufriedenheit nochmal zu sprechen zu kommen. Beide Sachen haben etwas gemeinsam: Sobald man anfängt, sich darüber ständig den Kopf zerbrechen, ist sie weg. Vielleicht wäre es manchmal besser, wenn man seinen Jahren mehr Leben schenkt, als dem Leben immer nur mehr leere Jahre. Da spart man sich zwar keine Zeit, aber lebt dafür.

Warum jetzt 10.000 Schritte auf einem Stepper glücklich machen? Keine Ahnung! Ich mach jetzt mal 10.000 Schritte, die mich auf jeden Fall zum Glück führen: der Biergarten in Haag ist super!

Bleibt g‘sund und habt Spaß.
Euer Florian Wildgruber

Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom Juni 2018.
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