Immer wieder neu
Einige Bemerkungen zum dynamischen Baugeschehen im südwestlichen Bereich des Freisinger Dombergs

Es ist die vierte tiefgreifende Umgestaltung innerhalb von 220 Jahren – das ist unerwartet häufig für einen Ort, den man für seine hohe Dichte an geschichtlichen Zeugnissen und für seine kostbaren Bau- und Kunstdenkmäler kennt und der wie kaum ein anderer Ort der Region sinnbildlich für Kontinuität steht. Aktuell vollzieht der Freisinger Domberg in seinem südwestlichen Teil, auf dem städtebaulich prominenten Areal zwischen der Residenz und dem Diözesanmuseum, erneut eine vollkommene Metamorphose. Das Phänomen, alle zwei, drei Generationen neue Architektur zu schaffen und dabei das Bisherige annähernd vollständig zu beseitigen, steht ganz im Gegensatz zum traditionellen Umgang mit dem sonstigen baulichen Gefüge des Dombergs.

Die Gründe für diese beinahe schon als historisch zu bezeichnende Dynamik sind vielfältiger Natur. Ausgangspunkt für die Entwicklung ist – wie so manches Mal in der Freisinger Stadtgeschichte – die Säkularisation in den Jahren 1802/03. Wie zahlreiche andere Kirchen wurde auch die auf dem Freisinger Domberg gelegene Kollegiatstiftskirche St. Andreas per kurfürstlichem Befehl abgebrochen. Der Kirche, im Kern eine romanische Basilika, wurde jeglicher Nutzen abgesprochen. Ihr unschätzbarer kultureller Wert spielte bei der damaligen Entscheidung keine Rolle. Vom Abriss verschont blieb seinerzeit unter anderem das westlich an die Kirche angebaute und bis heute bestehende Gebäude des Stiftsarchivs, ebenso die nördlich zum Domberg-Anger hin vorgelagerte Kirche St. Martin; letztere wurde sodann erst 1959 auf Geheiß der Erzdiözese abgebrochen, weil sie den Planungen für den neuen Erweiterungsbau des Priesterseminars im Weg stand (also jenem Gebäude, das seit Ende Januar 2022 niedergerissen wird).

Nach dem Abbruch von St. Andreas blieb der Platz unbebaut. Erwägungen, die Fläche im Rahmen der 1807 geplanten Kasernennutzung des Residenzgebäudes in einen Exerzierplatz umzuschaffen, wurden nicht realisiert. Infolge der Gründung des erzbischöflichen Priesterseminars 1826 beziehungsweise des erzbischöflichen Knabenseminars 1828 kam es hier zur Anlage einer Gartenfläche. Diese deutlich wahrnehmbare städtebauliche Lücke hatte insgesamt ein Jahrhundert bestand.

Im Jahr 1901/02 wurde die Lücke schließlich geschlossen. Bereits 1868 bis 1870 war westlich des Platzes der einstigen Stiftskirche, im Bereich des Propstei- und Dechanteihofes von St. Andreas, das Knabenseminar (seit 1974 Diözesanmuseum) nach Norden und Osten erheblich erweitert worden. Nun beauftragte die Erzdiözese den bekannten Münchner Architekten Gabriel von Seidl mit der Erweiterung des Priesterseminars, dessen Sitz das Residenzgebäude war. Seidl nutzte die Brachfläche gut aus und integrierte die alte Martinskirche geschickt in das neue Ensemble. Um das große Volumen der Erweiterung zu kaschieren, versuchte er den Bau durch einzelne architektonische Mittel zu akzentuieren, so besonders durch den Erker auf der Süd- sowie den apsidenartigen Vorsprung an der Westseite; auf der Nordseite reduzierte er die monotone Wirkung des nunmehr sehr langgezogenen Baukörpers, indem er zwischen Residenz und Erweiterungsbau einen neobarocken Giebel einfügte. Trotz der zweifellos gegebenen architektonischen Qualität war der Westteil des Dombergs mit Seidls Neubau an Baumasse überfrachtet und in seinen Proportionen beeinträchtigt worden. Das – aktuell intensiv diskutierte – Problem der Überbetonung der baulichen Horizontale beziehungsweise des Fehlens eines vertikalen Ausgleichs geht im Kern auf 1901/02 zurück.

1959 wurde Seidls Bau abgebrochen und an dessen Stelle für das Priesterseminar bis 1961 ein neuer Erweiterungsbau errichtet. Wesentlicher Grund hierfür war ein höherer Raumbedarf. Dabei wurde das Bauvolumen noch einmal erheblich vergrößert, was man nicht zuletzt dadurch erreichte, dass man den neuen Nordflügel weiter nach Norden, in den Domberg-Anger hinein, verschob. Wie bereits erwähnt fiel dabei die romanische Martinskirche dem Abbruch zum Opfer. Eine bauliche Akzentuierung, wie sie Seidl sechs Jahrzehnte zuvor noch vorgenommen hatte, unterblieb – mit Ausnahme des südseitigen Erkers, der auf Vorschlag des beauftragten Architekten Friedrich Haindl wiederum mit Seidls neobarocker Haube abgeschlossen wurde. 1968, sieben Jahre nach der Fertigstellung, wurde das Freisinger Priesterseminar geschlossen und nach München verlegt. Zurück blieb ein viel zu massiger und monotoner Baukörper, der das proportionale Gleichgewicht des Dombergs erheblich störte und zudem ohne jegliche Atmosphäre war. Die „Priesterkaserne“ entpuppte sich bereits wenige Jahre nach ihrer Fertigstellung als schwere städtebauliche Hypothek.

Die gutachterlich bestätigte schlechte Bausubstanz und vor allem die Dysfunktionalität waren entscheidende Gründe für den Abbruch des Haindlschen Erweiterungsbaus, der aktuell fast abgeschlossen ist. Auch wenn Gedanken insbesondere zur Nachhaltigkeit auf den ersten Blick gegen eine solche Maßnahme sprechen – aus funktionaler wie städtebaulich-architektonischer Sicht dürfte der Abbruch und anschließende Neubau in deutlich reduzierter Form eine große Chance sein.

Eine entscheidende Frage wird dabei sein, ob es gelingt, dem neuen Bau ein Maß an Originalität und gleichermaßen Qualität zu geben, der zu einem längerfristigen Bestand führt und mit dem sich spätere Generationen auseinandersetzen können, ohne ihn wiederum vollständig beseitigen zu müssen.

Von Florian Notter, Leiter des Stadtarchivs Freising

Der Westteil des Freisinger Dombergs von der Münchner Straße aus gesehen, Ölvedute von Johann Baptist Deyrer, 1772 (Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Leihgabe Diözesanmuseum Freising). Im Westen (links, oberhalb des Münchner Tores) der barocke Propsteihof von St. Andreas, rechts davon das noch bestehende Gebäude des Stiftsarchivs, sodann die Stiftskirche St. Andreas; rechts davon die Freisinger Residenz mit dem „Steinernen Saal“, hier noch mit dem 1789 bzw. 1828 abgetragenen großen Schlossturm; rechts außen die Domtürme.

Der Freisinger Domberg vom Weihenstephaner Berg aus gesehen, Fotografie um 1865 (Historischer Verein Freising, Sammlung Deppisch). Deutlich erkennbar ist die große Lücke, die der Abbruch der Kollegiatstiftskirche St. Andreas hinterlassen hat. Links der Propsteihof von St. Andreas, rechts die Residenz, dahinter die Domtürme.

Der Domberg von Süden, Fotografie um 1895 (Stadtarchiv Freising, Fotosammlung). Zwischen 1868 und 1870 wurde der Propsteihof von St. Andreas, der seit 1828 das Knabenseminar beherbergte, nach Osten und Norden stark erweitert. Der voluminöse Bau ist hier gut zu erkennen (links). Seit 1974 ist der Bau Sitz des Diözesanmuseums. Die Lücke hinüber zur Residenz ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht geschlossen.

Der Domberg von Süden, Postkarte um 1910 (Stadtarchiv Freising, Postkartensammlung). Der 1901/02 errichtete Erweiterungsbau von Gabriel von Seidl hat die städtebauliche Lücke im Bereich der einstigen Andreas-Kirche geschlossen. Zu erkennen sind hier auch Seidls architektonische Akzentuierungen im Bereich des südlichen Erkers und der westseitigen apsidenartigen Rundung.

Seidls Erweiterungsbau von Norden, Fotografie um 1930 (Stadtarchiv Freising, Fotosammlung). Deutlich zu erkennen ist, wie behutsam Seidl die romanische Martinskirche (rechts) in das neue Bauensemble integriert hat. Links der neobarocke Giebel über dem Hofküchenbau, im Vordergrund das sogenannte Arnpeck-Denkmal.

Der Seidlsche Erweiterungsbau während des Abbruchs, Fotografie 1959 (Stadtarchiv Freising, Fotosammlung). Links die Martinskapelle, die ebenfalls 1959 beseitigt wurde.

Der neue Erweiterungsbau von 1960/61, Fotografie um 1970 (Stadtarchiv Freising, Fotosammlung). Ein hier erkennbarer Unterschied zwischen dem Seidlschen und dem Haindlschen Bau ist – bei ähnlicher Höhenentwicklung – die Vermehrung der Geschosse. Die Dominanz des Gebäudes scheint die Freisinger Residenz (mittig) regelrecht zu erdrücken.

Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom April 2022.
In unserer Bibliothek können Sie diese und alle anderen Ausgaben der letzten Jahre online lesen.

zur Bibliothek...

weitere Artikel zu diesem Thema: