Wenn Cidem Glaser morgens ihren Friseursalon aufsperrt, weiß sie nie, was sie erwartet. Eines ist jeden Tag sicher: Die 42-Jährige kommt Menschen, die ein schweres Schicksal zu tragen haben, ganz nah. Und für viele dieser Menschen ist sie und das, was sie tut, ein Lichtblick. „Ich gebe ihnen Schutz“, sagt die Freisingerin. Schutz vor Blicken, Schutz davor, dass ihr Schicksal für die Welt da draußen für jeden sofort sichtbar wird. Cidem Glaser ist Friseurmeisterin. Doch die Arbeit, wie man sie bei anderen Friseuren kennt, hat sie vor vielen Jahren hinter sich gelassen. Sie hat sich auf Haarersatz spezialisiert.
Ihr Salon „Haar-Raum“ an der Skofja-Loka Straße in Freising ist deshalb auch kein Friseursalon wie jeder andere. „Zweithaarpraxis“ steht da an der Tür. Hier wird nicht bei einer Tasse Cappuccino in einer Illustrierten geblättert, während die Haarfarbe trocknet. Hier wird nicht übers Wetter oder den neuesten Klatsch aus den Frauenmagazinen geredet, während der Kunde nebenan sich für eine neue Frisur entscheidet. Im Haar-Raum geht es tiefer. Denn der Grund, aus dem die Menschen hierherkommen, ist in der Regel ein ernster. „Krebs und die Chemotherapie, das ist einer von vielen Auslösern, wieso Menschen Haarersatz brauchen“, erzählt die Geschäftsinhaberin. Haarverlust kann durch viele Krankheiten ausgelöst werden: Vernarbungen, Haarausfall als Nebenwirkung von Antidepressiva oder anderen Medikamenten, Kreisrunder Haarausfall, zwanghaftes Ausrupfen von Haaren (Trichotillomanie)… Schicksale, die Cidem Glaser immer wieder unter die Haut gehen. „Vor allem, wenn Kinder vor mir sitzen.“ Doch die Mutter einer zwölfjährigen Tochter geht voller Empathie auf ihre Kunden zu. Sie spielt nichts herunter, macht keine falsche Hoffnung. Das muss sie auch gar nicht. „Ich kann jedem helfen“, da ist sie sich sicher. Und nicht jeder braucht eine Perücke. Oft und viel arbeite sie mit einem Haarteil, das mit den verbliebenen Haaren verknüpft wird. Waschen, frisieren, föhnen – alles kein Problem damit. Auf eine wunderbar natürliche Art nimmt sie ihren Kunden die Angst vor dem, was da jetzt kommt. Was sie zurückbekommt, ist Vertrauen. Ob sie denn immer die ganze Geschichte zu hören bekommt? „Ja! Und das ist manchmal echt heftig.“ Jahrelange Erfahrung hat sie eines gelehrt: Der Zeitpunkt, wann die Patienten zu ihr kommen, ist ganz entscheidend. Damit meint sie speziell Patienten einer Chemotherapie. „Die Haare fallen in der Regel am zehnten Tag der ersten Chemo büschelweise aus.“ Und bis dahin sollten die Haare schon raspelkurz sein. „Wenn sich meine Kunden selbst dafür entscheiden, die Haare abrasieren zu lassen, fühlen sie sich dem Krebs nicht so hilflos ausgeliefert. Sie haben sich aktiv dafür entschieden, die Haare kommen jetzt ab. Das macht einen großen Unterschied.“ Cidem Glaser erzählt von einer Kundin, die, nachdem ihr der Arzt die Diagnose gestellt hatte, als nächstes sofort zu ihr gefahren sei. Völlig aufgelöst sei sie mit ihren hüftlangen Haaren in ihrem Salon gestanden und habe verzweifelt gesagt: „Man kann mir alles nehmen, aber bitte nicht meine Haare!“ Solche Fälle brauchen viel Einfühlungsvermögen. Menschen definieren sich auch über ihre Frisur. Wäre diese Kundin nicht sofort zu ihr gekommen, sondern hätte abgewartet, bis ihr die Haare durch die Chemo ausfallen, wäre alles noch viel schlimmer für sie gewesen, sagt die Friseurmeisterin. So hatten sie Zeit, sich langsam vorzutasten. Schritt für Schritt habe sie sie auf ein (vorübergehendes) Leben mit Perücke vorbereitet. „Rückblickend sagen mir meine Kunden oft, es sei nicht so schlimm gewesen, wie sie es sich vorgestellt hatten. Das ist immer besonders schön zu hören.“ In diesem konkreten Fall hat die junge Frau zu ihr gesagt: „Wenn wir keinen Plan gehabt hätten, hätte ich das nicht ertragen.“ Dieser Plan sah so aus: Die Haare wurden in Etappen gekürzt, zuerst am Nacken und über den Ohren rasiert. Es gab genügend Zeit, sich auf die neue, für die junge Frau beängstigende Situation einzustellen. Und am Ende war alles gut, „sie hat sich wohl und schön gefühlt mit ihrer Perücke“. Mitgefühl? „Ja, natürlich habe ich Mitgefühl. Aber kein Mitleid. Das ist das letzte, was man in der Situation brauchen kann“, weiß die 42-Jährige.
Für manche Kunden ist eine höchstmögliche Privatsphäre in dieser schweren Zeit das Wichtigste. Und hier unterscheidet sich der Salon Haar-Raum doch von anderen Friseuren. Es gibt Zimmer, hinter denen man die Tür schließen kann, die Beratung und die Behandlung unter vier Augen stattfinden. Überhaupt ist es hell, lichtdurchflutet und freundlich hier: Wohlfühlatmosphäre. „Als ich zum ersten Mal hier war, hab ich mich sofort wohl und an der richtigen Adresse gefühlt“, sagt Ute Claudius. Sie ist 51 Jahre alt und hat im Februar die Diagnose Brustkrebs bekommen. Ob es sie aus der Bahn geworfen hat? Eigentlich nicht. Da seien viele Fragen gewesen. Vieles, womit sie sich erst einmal alleine gelassen gefühlt hat. Dazu gehört auch das Thema Haarausfall durch die Chemo. Ihr Arzt habe ihr einen Flyer der Zweithaarpraxis in die Hand gedrückt. Das war’s. Mit dem Thema Perücke habe sie sich erst gar nicht so recht auseinandersetzen wollen. Zu viele andere Dinge waren da zu klären. Doch dann fasst sie sich doch ein Herz und wählt Cidems Nummer. Bei dem Termin vor Ort habe sie eine junge, herzliche Frau in Empfang genommen. „Sie hat mir erzählt, was jetzt auf mich zukommt, welche Möglichkeiten es gibt.“ Und sie hat ihr etwas gezeigt, was für sie während der Chemotherapie noch viel wichtiger geworden ist, als eine Perücke: Tücher. Ute Claudius hat sie in vielen Farben. Mit einem Tuch geht sie gerne auf die Straße. Sie fühlt sich wohl damit. „Vor allem bei der Hitze – da hätte ich nicht ständig mit Perücke rumlaufen wollen.“ Angst, wie sie ohne Haare aussehen könnte, hatte sie nie. „Im Gegenteil, nach dem ersten Termin im Haar-Raum war ich neugierig, wie das aussehen wird.“ Und als Cidem Glaser bei der 51-Jährigen den Rasierer ansetzt, die Haare fallen und die Friseurmeisterin über ihren schönen Hinterkopf ins Schwärmen gerät, wird das Gefühl, hier genau richtig zu sein, noch einmal bestätigt. Schlechte Tage bleiben bei so einer Erkrankung freilich nicht aus. Doch bei Ute Claudius sind die in der Unterzahl. „Ich führe ein aktives Leben, ich gehe schwimmen, mache Yoga, fahre mit Freundinnen weg.“ Man dürfe sich der Krankheit nicht ergeben. Sie habe ihren Frieden damit geschlossen und schafft es mittlerweile sogar, die Tage, an denen sie krankgeschrieben ist, so zu nutzen, als hätte sie Urlaub. Ohne schlechtes Gewissen, dem Arbeitgeber gegenüber. Sondern in dem Wissen, auf diese Art und Weise schneller wieder gesund zu werden und mehr Kraft zu tanken, als wenn sie die Krankheit und die Chemo über sich ergehen lässt. „Ich will schön sein – auch mit Krebs. Ich will kein Krebsgesicht.“ Formulierungen wie „ich kämpfe gegen den Krebs“, vermeidet sie dabei bewusst. Schließlich sei sie nicht im Krieg. „Ich kämpfe gegen die Nebenwirkungen der Chemotherapie und wenn ich einen schlechten Tag habe, bin ich auch mal jaulig.“ Aber trotz allem nimmt sie am Leben teil, sieht noch immer die vielen Geschenke, die das Leben für sie bereithält. „Ich nehme sie an, packe sie aus.“ Wie zum Beispiel die vielen wunderbaren Menschen, die sie auf diesem Abschnitt ihres Lebensweges kennengelernt hat. Oder die Tatsache, dass man Dinge nur bekommt, wenn man danach fragt. Auch das hat sie die Erkrankung gelehrt. „Die Ärzte nehmen dich nicht zur Seite und erklären dir alles, was du wissen willst. Du musst schon danach fragen, dich selbst informieren, dir die Dinge und Erkenntnisse, die für dich wichtig sind, selbst erarbeiten.“ Eine Frage hat sie sich jedoch nie gestellt. „Warum ich?“.
So zuversichtlich sind nicht alle Kunden von Cidem Glaser. „Es gibt schon viele, die ich erst einmal auffangen muss.“ Dazu hat sie sich ganz bewusst entschieden. Als vor zwölf Jahren ihre Tochter zur Welt kommt, weiß sie, dass sie den Menschen in ihrer täglichen Arbeit mehr geben will, als eine neue Frisur oder eine neue Haarfarbe. Sie sucht nach mehr Sinn in dem, was sie tut. Schon vor ihrer Schwangerschaft hatte sie immer wieder mit Kunden zu tun, die mit den Folgen von Haarausfall zu kämpfen hatten. „Es gab aber keine Aus- oder Weiterbildung für Friseure, die sich auf Zweithaar spezialisieren wollen.“ Als sie dann nach der Elternzeit wieder in den Beruf einsteigen und sich neu orientieren will, kommt ihr ein Zufall zu Hilfe: Peter Volk, der Vorsitzende des Zweithaarverbands, gewinnt genau zu der Zeit einen 15-jährigen Kampf und setzt eine Weiterbildung für Zweithaarfriseure bei der Handwerkskammer in Düsseldorf durch. Cidem Glaser erfährt davon, meldet sich an und ist am Ende die erste Friseurmeisterin Bayerns, die diese Weiterbildung erfolgreich abschließt. Bei ihr ist jeder richtig, der ein offensichtliches Haarproblem hat und darunter leidet. Je nach Erkrankung und Krankenkasse gibt es den Haarersatz sogar ganz oder teilweise auf Rezept. Was die Kunden mit Haarproblemen bei Cidem Glaser auf jeden Fall im Gesamtpaket bekommen: Empathie, Verständnis und eine individuelle Lösung, die ihnen ihre Lebensqualität zurückgibt. „Niemand muss in der heutigen Zeit mit einer Glatze oder einer schlechten Perücke rumlaufen.“
Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom September 2018.
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