Der genetische Zwilling
Thomas Dafinger ist Kurier für Stammzellen. 2012 kommt er selbst als Spender in Frage.

Die Aufschrift seines Koffers sorgt regelmäßig für Gesprächsstoff unter Flugpassagieren. Der kleine silberne Transportkoffer ist Thomas Dafingers wichtigster Begleiter auf Reisen. Der Inhalt sind ein Plastikbeutel und mehrere Spezialkühlakkus mit besonders langer Kühldauer. Thomas lässt den Koffer nicht aus den Augen, bis er am Reiseziel angekommen ist. Am Security-Check nimmt ihm ein Flughafenmitarbeiter den kühltaschenähnlichen Begleiter ab, trägt ihn um die Handgepäckkontrolle herum und gibt ihn Thomas sofort wieder zurück. Darauf steht: Menschliches Knochenmark. Nicht röntgen.
Thomas Dafinger ist Flugkurier für Knochenmark und Stammzellen. Er begleitet medizinisches Transplantationsgut von A nach B. Onboard-Kurier nennt man das. Im Einsatz ist er, wenn irgendwo auf der Welt ein Leukämiepatient eine lebensrettende Spende in Form von Knochenmark oder Stammzellen braucht. „Man könnte die Spenden auch per Paketdienst verschicken. Aber das wäre zu leichtsinnig. Sinn des Kuriers ist die persönliche Begleitung. Das Transplantationsgut darf nicht verloren gehen und auf keinen Fall geröntgt werden. Das macht die Stammzellen kaputt. Der ganze Transport wäre umsonst.“ Gewährleisten kann das nur die persönliche Betreuung von Thomas oder einem seiner Kollegen.
Ein außergewöhnlicher und verantwortungsvoller Job, den der 34-Jährige Wahlfreisinger macht. Und das vorwiegend ehrenamtlich. Für seine Einsätze erhält er eine Aufwandsentschädigung. Thomas‘ Motivation ist eine andere. „Soziales Interesse. Ich war Zivi, schon oft beim Blutspenden und bin gern sozial engagiert.“ Das hat er auch in seinem Motivationsschreiben angegeben, das er bei seiner Bewerbung um den Job abgeben musste. „Von einem Kumpel hab ich gehört, dass es das gibt. Ich hab recherchiert und mich gleich beworben.“ Vorausgesetzt werden unter anderem sehr gute Deutsch- und Englischkenntnisse und viel Reiseerfahrung. Die Spezialtransporte werden von Thomas‘ Auftraggeber, Ontime Courier, bei Fluggesellschaft, Zoll und Behörden angemeldet. Dennoch muss er im Fall der Fälle gut verhandeln können.
Mit der Bewerbung gab er 2009 auch einen Wangenabstrich (Speichelprobe) ab. Damit ist er einer von weltweit 20.535.512* potentiellen Spendern und in sämtlichen Spenderdateien für Stammzellen und Knochenmark registriert. Allein in Deutschland gibt es 29 Spenderdateien.
Vier Wochen nach seiner Zusage der erste Auftrag. Ein Stammzelltransport in die USA. Einige Tage vor Reisebeginn bekommt er telefonisch Bescheid. Es folgt ein Einweisungsgespräch für den Auftrag bei seiner Firma. Dann geht’s los. Ein Transport dauert zwischen zwei und vier Tage.

Tag 1: Thomas reist zum Entnahmezentrum, also dorthin, wo die Stammzellen dem Spender entnommen werden. Das kann in Deutschland oder auch weltweit sein.
Tag 2: Die Übergabe des „Produkts“ erfolgt früh im Krankenhaus. Die Stammzellen sind, wie man es von Blutkonserven kennt, in einem Plastikbeutel aufbewahrt und werden nun im Spezialkoffer verpackt. Die Akkus halten sie mehrere Tage konstant bei plus vier Grad. Jetzt muss alles schnell gehen. Papierkram erledigen, ab zum Flughafen. Startet der Flug pünktlich? Auch der Anschlussflug? Wichtige Fragen, denn die Übergabe der Stammzellen am Zielort ist genau auf den jeweiligen Patienten abgestimmt und darf sich nicht verzögern. Das erhöht das Risiko für den Patienten. Außerdem gehen jede Stunde Zellen kaputt – je länger die Reise dauert… Über ein Onlinetracking-System setzt Thomas regelmäßig Statusmeldungen über den Verlauf des Transports an seine Firma ab. Alle Beteilig-ten verfolgen das Geschehen.
Im Flugzeug verstaut Thomas den Koffer neben sich. Schlafen darf er während des Flugs nicht, egal wie lange dieser dauert. Seinen Transport muss er immer im Auge haben.
Tag zwei und drei verschwimmen aufgrund der Zeitverschiebung nach Amerika ineinander. Am Ziel angekommen, geht’s direkt vom Flughafen in die Klinik des Patienten. Ist alles Schriftliche erledigt, werden die Stammzellen übergeben. „In dem Moment fällt eine brutale Last ab. Man trägt ja doch eine große Verantwortung. Ich bin immer total angespannt, obwohl ich das schon über 100 Mal gemacht hab.“ Ab jetzt hat Thomas frei. Nach der schlaflosen Reise freut er sich aufs Hotelbett. An Schlaf ist aber erst einmal nicht zu denken, denn dazu „ist man viel zu aufgeputscht“.

Tag vier hat Thomas zu seiner freien Verfügung und für den Rückflug. Bei außergewöhnlichen Fernzielen kann er schon mal ein paar Tage auf eigene Kosten dranhängen. „Polen und Chile fand ich total interessant. Südafrika und Australien waren natürlich echte Traumziele.“ Die genauen Städte, die er für Übergaben angeflogen hat, darf er aus vertraulichen Gründen nicht nennen. „Der ganze Transport läuft anonym ab, man trifft keine Patienten.“ Doch eine Ausnahme gab es. Und die ging Thomas ans Herz. In der Türkei stand er bei der Übergabe direkt einem hinter einer Glaswand geschützten Patienten gegenüber. Ein Junge, fünf Jahre, an Leukämie erkrankt. „Hallo, wie geht’s dir? Ich spreche Deutsch“, sagte der türkische Bub zu Thomas und seine Mutter dankte ihm tausendmal. „Ich war ja nur der Überbringer, nicht der Spender. In solchen Momenten weiß man, warum man das macht. Das hat mich echt bewegt.“ Die Transplantation fand sofort statt. Die Zellen gelangen intravenös ins Blutsystem des Patienten.
Im Juli 2012 dann die Überraschung: Thomas erhält ein Päckchen mit einem Röhrchen für eine Blutprobe. Er selbst kommt als Spender in Frage. Ohne zu Zögern schickte er die Probe ab. Kurze Zeit später ein zweites Päckchen. Mehr Röhrchen für mehr Proben. Auch dafür geht er zum Arzt und lässt sich Blut abnehmen. Weitere drei Wochen später der entscheidende Anruf: „Ihre Gewebemerkmale passen auf einen Patienten.“ Thomas ist ein genetischer Zwilling. Wenn er will, kann er jemandem helfen, der an Blutkrebs erkrankt ist. Er will.
Aufklärungsgespräche und Voruntersuchungen folgen. Alles ok. Jetzt spritzt sich Thomas fünf Tage lang zwei Mal täglich ein Hormon unter die Haut. Das fördert das Wachstum der Stammzellen im Beckenknochen. „Ich hab tatsächlich gespürt, dass sich da was tut im Becken.“ Die mehr produzierten Stammzellen werden ins Blut ausgeschwemmt, die Spende kann erfolgen.
Entscheidet sich der Spender im letzten Moment gegen die Entnahme, bedeutet das den Tod für den Leukämiepatienten. Denn wenn alle Voraussetzungen für eine Spende erfüllt sind und der Spender zusagt, beginnt parallel die Vorbereitungsphase des Patienten. Mit einer Chemotherapie werden die kranken Zellen, aber auch das Immunsystem zerstört. Nur dann akzeptiert der Körper die fremden Stammzellen. „In diesem Stadium der Behandlung ist der Patient ohne Stammzellen des Spenders mittelfristig nicht lebensfähig“, informiert die Deutsche Konchenmarkspenderdatei, DKMS, auf ihren Internetseiten.
Im Entnahmezentrum in Dresden liegt Thomas mit drei weiteren Spendern im Zimmer. Aus seinen Armen ragen Schläuche. Das Blut fließt aus einem Arm raus, in den Zellseparator, über den zweiten Arm zurück in den Körper. „Es fühlt sich im ersten Moment kalt an, wenn das Blut zurückkommt“. In dem Gerät werden die Zellen durch Zentrifugalkraft vom Blut getrennt und in einem Beutel gesammelt. Die Entnahme, Apherese, dauert bei Thomas viereinhalb Stunden. „Wir haben uns in der Zeit ein paar Filme angekuckt. Bei manchen ging’s schneller als bei mir.“ Weh getan habe es nicht. „Ich hatte nicht mal blaue Flecken.“ Nach der Spende „war ich total stolz! Ich kenne sonst niemanden, der Spender ist. Die Chance ist minimal.“ Laut DKMS reicht die Wahrscheinlichkeit, dass die Merkmale von zwei Menschen übereinstimmen, von 1 : 20.000 bis 1: mehreren Millionen.
Geliefert hat er seine eigene Spende nicht. „Das fragen viele.“ Vor Weihnachten bekam er einen Brief von der DKMS. Thomas hat einer Kanadierin geholfen. Sie produziert wieder eigene Stammzellen. Vorerst war die Transplantation erfolgreich. Ob die Frau ganz gesundet, stellt sich erst in ein paar Monaten oder noch später heraus. Für die nächsten drei Jahre ist Thomas ihr Exklusivspender. Sollte sie erneut Zellen brauchen, kommen sie von ihm. Für andere Patienten ist er in dieser Zeit gesperrt.
Die Spendenbereitschaft sei in Deutschland recht gut, meint Thomas. Trotzdem solle sich jeder überlegen, wie froh man selbst in so einer Situation wäre, einen Spender zu haben. Je mehr spenden, desto höher die Wahrscheinlichkeit.
Thomas freut sich schon, wenn er wieder als Flugbote im Einsatz sein wird und einem Patienten einen Beutel überbringen kann, der Leben bedeutet. An das Gemurmel der anderen Flugpassagiere hat er sich gewöhnt. Fragen zu seinem kleinen silbernen Koffer beantwortet er gern. Zu viel Aufmerksamkeit um seine Person mag der sympathische Freisinger allerdings nicht.
(Foto: Michael Kunz)

Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom März 2013.
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