Orientierung durch das „studium naturale“

„Wer nicht geschunden wird, wird nicht erzogen“. Mit diesem Zitat des altgriechischen Dichters Menander haben unbekannte Studenten ihre Erfahrungen am Campus Weihenstephan auf einem Stein hinter dem Mensagebäude festgehalten. Das Fundament der naturwissenschaftlichen Lehre auf dem Weihenstephaner Berg wurde durch Benediktinermönche bereits im Mittelalter gelegt. Nach der Säkularisation ließ der bayerische Kurfürst Max IV. Joseph 1803 die erste kurfürstliche Forstschule und eine Musterlandwirtschaftsschule auf dem ehemaligen Klostergelände errichten. 1895 entstanden die Königlich Bayerische Akademie der Landwirtschaft und Brauerei, aus der ein Jahr später die Gartenbauschule hervorging. 1919 wurde die Akademie zur Hochschule ernannt, welche wiederum bis 1950 in die Technische Universität München (TUM) integriert wurde. Seit 1971 gibt es die Fachhochschule Weihenstephan-Triesdorf, die mittlerweile den Namen Hochschule Weihenstephan-Triesdorf trägt. Der gesamte Campus Weihenstephan erstreckt sich heute auf eine Fläche von über hundert Hektar, auf der an neun verschiedenen Lehranstalten und weiteren Forschungszentren gelernt und geforscht wird. Zu den größten Einrichtungen gehören neben dem Wissenschaftszentrum Weihenstephan der TUM und der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf, das Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung, die staatliche Fachschule für Blumenkunst sowie die Bayerischen Landesanstalten für Landwirtschaft bzw. für Wald und Forstwirtschaft. Die TUM und die Hochschule Weihenstephan-Triesdorf bieten zusammen 39 Master- und Bachelorstudiengänge an. Um dabei die richtige Wahl zu treffen, bietet die TUM seit dem Semester 2010/2011 Interessierten die Möglichkeit, im „studium naturale“ naturwissenschaftliches Grundlagenwissen zu sammeln und in das gesamte Angebot der Technischen Universität reinzuschnuppern.

Das zweisemestrige Orientierungsstudium setzt sich aus den Modulen Mathematik, Physik und Chemie/Biologie, überfachlichen Grundlagen wie etwa Sprachkursen, Ethik, Geschichte der Technik oder Methoden des wissenschaftlichen Arbeitens und dem Sigma-Modul zusammen, für das die Studierenden Lehrveranstaltungen aus 2-3 Bachelorstudiengängen pro Semester aus dem gesamten Studienangebot der TUM wählen sollten. Bei der Entwicklung dieses deutschlandweit einmaligen Angebots ging es den Dozenten darum, eine breite und fachlich verknüpfte Grundlagenausbildung für Schulabgänger ohne fundierte naturwissenschaftliche Kenntnisse und Orientierungslose zu gestalten.

Während das sogenannte „studium generale“, das es bereits an vielen Universitäten bundesweit gibt, ein offenes Studienprogramm ohne Rechte und Pflichten ist, müssen sich Interessierte für das „studium naturale“ immatrikulieren. Damit erhalten sie die regulären Rechte eines Studenten. Das Angebot ist für 106 Studierende ausgelegt. Im ersten Jahr schrieben sich 26 Schulabgänger ein, ein Drittel brach nach dem ersten Semester ab. Nach dem Abschluss des zweiten Semesters entschieden sich fünf, an der TUM ein Vollstudium aufzunehmen. Für das aktuelle Studienjahr hatten sich im Oktober 56 junge Menschen angemeldet. 50 haben sich nach den Semesterferien zurückgemeldet. Zwei von Ihnen sind Mirjam Laner aus Giesing und Sophie Schwenk aus dem Landkreis Fürstenfeldbruck. Beide wohnen noch zu Hause und pendeln täglich nach Freising. Nach dem Abitur hatten beide den Wunsch, ein naturwissenschaftliches Studium aufzunehmen. Für Mirjam sollte es ursprünglich Physik sein. Durch das „studium naturale“ und das Wahlfach „Tragkonstruktionen“ hat sie ihre Begeisterung für das Bauingenieurswesen entdeckt und sich umentschieden. Sophie hatte sich schon für den Studiengang Landschaftsplanung eingeschrieben. Aufgrund des Physikschwerpunkts bekam das „studium naturale“ kurzfristig doch noch ihren Zuschlag. Über das Sigma-Modul nahm sie am Wahlfach Landschaftsökologie und -planung teil. Anschließend stand für sie fest, dass das überhaupt nicht ihre Sache ist. „Ich bin echt froh über meine Entscheidung, mit dem studium naturale nach dem Abitur weiterzumachen. Ich hatte schon immer Interesse an Physik. Jetzt weiß ich, dass das genau das Richtige für mich ist.“

Neben den Vorlesungen und den Übungen erhalten die Studierenden in verschiedenen Praktika genaue Einblicke in die Forschungsarbeit. Nachdem es im Wintersemester im physikalischen Pflichtpraktikum um Doppelspaltversuche, Photometrie und Mikroskopie ging, geht es aktuell für 15 Teams mit je zwei bis drei Studierenden im fächerübergreifenden Energieprojekt beispielsweise um den Bau und die Verbesserung einer Hefebrennstoffzelle oder die Optimierung von Dynamos. Projektplanung, Erstellung von Materiallisten und Versuchsdurchführung werden von den Gruppen eingenverantwortlich übernommen.

Für das innovative Konzept hat die TUM die Macher des „studium naturale“ mit dem Ernst-Otto-Fischer-Lehrpreis ausgezeichnet. Ein Lob unter anderem an die Koordinatorin Dr. Miriam Mann. Sie ist zuversichtlich, dass in absehbarer Zeit das Studienplatzangebot ausgelastet ist. Denn bereits jetzt sind die Anfragen für den kommenden Jahrgang prozentual höher als vor einem Jahr. Und das, obwohl die offizielle Bewerbungsphase erst am 15. Mai beginnt. Detaillierte Informationen über das „studium naturale“ finden Interessierte auf der Webseite www.studiumnaturale.wzw.tum.de.

Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom Mai 2013.
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