Freisings erste protestantische Kirche
September 1864 bis April 1945

Am Vormittag des 4. September 1864, einem Sonntag, sammelte sich eine größere Gruppe von Personen vor dem Freisinger Rathaus, darunter städtische und staatliche Repräsentanten sowie eine Reihe protestantischer Würdenträger. Der Zug, der sich bald formierte, setzte sich sodann in Richtung Münchner Straße in Bewegung. Schon kurz nachdem er das Münchner Tor passiert hatte, lag das Ziel in Sichtweite: Freisings erste protestantische Kirche, die in den vergangenen zwei Jahren unter großen finanziellen und organisatorischen Mühen errichtet worden war und nun Mittelpunkt des noch jungen protestantischen Gemeindelebens werden sollte. Ein gutes Stück außerhalb der Kernstadt, gegenüber des 1858 eröffneten Eisenbahnhofes und bald umbaut von Handwerks- und Fabrikbetrieben wurde die Kirche Mitte des 19. Jahrhunderts das Wahrzeichen der ersten, von Industrialisierung und Technisierung geprägten Stadterweiterung Freisings. Nur knapp 81 Jahre später, am 18. April 1945, wurde der protestantischen Kirche eben diese Lage zum Verhängnis, als die U.S.-Luftwaffe Bahnhof und Industrieanlagen bombardierte. Mit Ausnahme ihres Turmes wurde die Kirche vollkommen zerstört. Nun, genau eineinhalb Jahrhunderte nach der Weihe der ersten protestantischen Kirche Freisings, ist es an der Zeit, an sie zu erinnern.

Die Entstehung einer protestantischen Gemeinde in Freising

Bayern war nach Beginn der Reformation 1517 ein strikt altgläubiges Land geblieben. Sehr früh, ab 1521, hatte die bayerische Regierung unter den Herzögen Wilhelm IV. (reg. 1508-1550) und Ludwig X. (reg. 1514-1545) eine Politik etabliert, die einerseits die Bekämpfung der Reformation, andererseits die Reform der Altkirche forcierte. Die fürstbischöfliche Regierung in Freising unter Philipp von der Pfalz (reg. 1498-1541) und dessen Nachfolgern schloss sich diesem gegenreformatorischen Kurs im Wesentlichen an, musste jedoch schwerwiegende Eingriffe in die eigenen geistlichen Kontrollrechte durch Bayern hinnehmen.Gut zweieinhalb Jahrhunderte später, mit dem Regierungsantritt des Kurfürsten Maximilian IV. Joseph (reg. 1799-1825, seit 1806 König Maximilian I. Joseph), kam es zu einer völligen Umkehr in der bisherigen bayerischen Religionspolitik. Aus einer aufgeklärten, toleranten Grundhaltung heraus, aber auch im Hinblick auf handfeste wirtschaftliche Interessen Bayerns wurden die religiöse Toleranz und die Gleichstellung der verschiedenen christlichen Glaubensrichtungen propagiert. Mittels verschiedener Erlasse, die man vorwiegend in den ersten Regierungsjahren ausgegeben hatte, erfuhren diese Vorhaben ihre gesetzliche Verankerung. Dazu zählen unter anderem das „Bayerische Toleranzedikt“ (26. August 1801) sowie das „Bayerische Religionsedikt“ (10.Januar 1803) (und dessen Wiederholung am 24. März 1809). Innerhalb der beiden bayerischen Verfassungstexte von 1808 bzw. 1818 nahmen religiöse Toleranz und konfessionelle Parität (unter Katholiken, Lutheranern und Reformierten) jeweils eine entscheidende Position ein.

Obwohl mit der Verkündung des bayerischen Religionsediktes vom Januar 1803 der Zuzug protestantischer Neubürger auch in die Stadt Freising theoretisch schon möglich gewesen wäre, dauerte es noch einige Jahre, bis es dazu kam. Genaue Kenntnisse über die ersten Protestanten in Freising liegen bedauerlicherweise nicht vor. Man darf jedoch annehmen, dass es sich beim Neustifter Kasernenhausmeister Holderer und insbesondere beim Tabakfabrikanten Striedinger um die ersten protestantischen Neubürger Freisings handelte. Die Familie Holderer ließ sich wohl Ende 1817, spätestens 1818 hier nieder, die Familie Striedinger sodann 1819. In den 1820er und 1830er Jahren siedelten sich weitere Familien in der Umgegend Freisings an: 1835 zählte man in den damaligen Landgerichten Freising und Moosburg (Gebiet in etwa des heutigen Landkreises Freising) 70 protestantische Familien. Vorwiegend kamen diese aus der bayerischen Pfalz; der zu dieser Zeit in Altbayern noch günstige landwirtschaftliche Boden bildete dabei den Hauptbeweggrund für den wirtschaftlichen Neuanfang dieser Familien.

Eine eigene protestantische Pfarrorganisation in Freising spielte – trotz der steten Zunahme des protestantischen Bevölkerungsanteils – lange Zeit keine Rolle. Aufgrund eines zunächst relativ hohen protestantischen Bevölkerungsanteils auf dem Land, vor allem im und um das Ampertal, hatte man den seelsorgerischen wie verwaltungsmäßigen Mittelpunkt in kleineren Landgemeinden eingerichtet. Das auch für die Freisinger Protestanten zuständige Pfarrvikariat lag ab 1829 in Kemmoden/Petershausen, ab 1833 in Leonhardsbuch und seit 1837 in Oberallershausen. In letzterem Ort wurde 1837 die erste protestantische Kirche im Freisinger Umland geweiht. Da auch die Stadt Freising dem Sprengel des Pfarrvikariats Oberallershausen angehörte, mussten die Freisinger Protestanten einen langen Weg zurücklegen, wenn sie den dortigen Pfarrgottesdient besuchen wollten. Dieser unhaltbare Zustand endete im Jahr 1849 mit einem Provisorium: Um Gottesdienste in der Stadt abhalten zu können, stellte die protestantische Gemeinde Freising einen Antrag beim Freisinger Stadtmagistrat, wonach ihnen zu diesem Zweck der Rathaussaal überlassen werden sollte. Der Stadtmagistrat und auch das Kollegium der Gemeindebevollmächtigten stimmten dem Antrag zu. Protestantische Aushilfspfarrer kamen nun ein- bis zweimal pro Woche nach Freising und feierten im Rathaussaal Messe. Dass diese Räumlichkeit, die damals nach Art eines Mehrzweckraumes genutzt worden war (auch der Freisinger Turnverein nutzte den Saal), nicht dauerhaft für sakrale Zwecke geeignet war, lag auf der Hand. So kam schon wenige Jahre später, 1855, erstmals der Gedanke auf, einen eigenen protestantischen Kirchenbau in Freising zu errichten. Im Zusammenhang mit dem Bau der ersten protestantischen Kirche (1862 bis 1864) wurde der dortigen Gemeinde sodann 1862 auch ein eigener Pfarrvikar zugeordnet: der 23jährige Julius Kelber. Ein eigenes Pfarrvikariat Freising wurde nicht gebildet, formal gehörte Freising noch dem Pfarrvikariat Oberallershausen an. Insbesondere nach der Errichtung der Kirche etablierte sich Freising gegenüber Oberallershausen aber immer mehr zum protestantischen Mittelpunkt. Dieser Entwicklung wurde bald Rechnung getragen, indem 1872 per Dekret König Ludwigs II. die „Protestantische Stadtpfarrei Freising“ begründet wurde.

Planung und Bau der ersten protestantischen Kirche

Eine erste quellenmäßig fassbare Initiative zu einem protestantischen Kirchenbau in Freising findet sich im Jahr 1855. Sechs Jahre nachdem der Freisinger Stadtmagistrat der protestantischen Gemeinde den Rathaussaal für die temporäre Abhaltung von Gottesdiensten überlassen hatte, schien die Situation weiter unbefriedigend zu sein. Dies lag vor allem an der stetig wachsenden Zahl der protestantischen Gemeindemitglieder in Freising (1860: 183 Personen) – der Rathaussaal wurde zu klein. Hatte diese erste private Initiative eines Gemeindemitglieds keinen Erfolg – man erwiderte, die Zahl der Freisinger Protestanten wäre noch zu gering für einen Kirchenbau –, so stand der Gedanke doch im Raum. Diskussionen im protestantischen Gemeindeausschuss führten nach und nach dazu, nun tatsächlich einen Kirchenbau zu forcieren. Die Generalversammlung der Freisinger Protestanten am 2. Juni 1857 fasste sodann den Beschluss zu einem eigenen „gottesdienstlichen Lokal“, die Generalversammlung am 6. Mai 1858 konkretisierte den Beschluss schließlich insofern, als man sich nicht nur für einen Betsaal, sondern für einen eignen Kirchenbau mit Turm entschloss.

Als Standort für die neue Kirche fasste man zunächst ein Grundstück vor dem Ziegeltor, gegenüber des St.-Georg-Friedhofes, ins Auge, das dem Gastwirtschaft- und Brauereibesitzer Joseph Duschl gehörte. Das übergeordnete protestantische Dekanat München sprach sich im September 1859 „wegen der Nähe zur [katholischen] Gottesackerkirche“ jedoch entschieden gegen diesen Standort aus. Nach einer längeren Suche fand man in einem langen, schmalen Grundstück vor dem Münchner Tor an der Münchner Straße den geeigneten Bauplatz, den man vom Privatier Caspar Singer erwerben konnte. Da auch die Entwürfe des ersten Projektes, die Johann Lang, Bauassistent bei der staatlichen Baubehörde Freising, gezeichnet hatte, nicht den Zuspruch des Münchner Dekanats erhalten hatten, mussten für den neuen Standort neue Pläne geliefert werden. Diesmal entschieden sich die Mitglieder des protestantischen Gemeindeausschusses für den Münchner Architekten und Regierungskreisbaumeister Karl Klumpp d. J., Neffe und Schüler Friedrich von Gärtners. Dieser hatte 1854 bereits die Pläne zur neuen Pfarrkirche St. Jakob in Vötting sowie zehn Jahre zuvor, 1844, zum neuen Bräuhaus in Weihenstephan entworfen. Klumpps Pläne erhielten sowohl vom protestantischen Dekanat als auch von König Maximilian II. und vom staatlichen Baukunstausschuss – von wenigen Änderungsvorschlägen abgesehen – die Zustimmung.

Zur Koordinierung des Kirchenbaus wurde von der protestantischen Gemeinde ein eigener „Kirchen-Bauausschuss“ ins Leben gerufen. Ihm gehörten unter anderem auch der Freisinger Rentbeamte Heinrich Appel sowie Stadtschreiber Matthias Gebert an. Dabei handelte es sich nicht um die einzigen Freisinger Schlüsselstellungen, die in „protestantischer Hand“ waren. Am 7. November 1862 konnte der Grundstein zur Kirche gelegt werden. Am 4. September 1864 wurde sie feierlich eingeweiht. Die für damalige Verhältnisse enormen Baukosten von knapp 30.000 Gulden wurden fast ausschließlich über Spenden von Gemeindemitgliedern, über eine bayernweit bei protestantischen Gemeinden ausgeschriebene Kollekte sowie durch Zuschüsse des „Gustav-Adolf-Vereins“ gedeckt.

18. April 1945: Zerstörung der Kirche

Ihre Lage in unmittelbarer Nähe zum Eisenbahnhof und zu verschiedenen, auch munitionsproduzierenden Fabriken wurde der protestantischen Kirche am 18. April 1945 zum Verhängnis. Seit 1944 war in Freising immer wieder Sirenenalarm ausgelöst worden; man erwartete eine Bombardierung durch die alliierte Luftwaffe. Die Flieger überfolgen Freising zwar, ihr Ziel war jedoch stets München gewesen. Nur an jenem 18. April 1945, wenige Minuten vor 15 Uhr, wurden auch über Freising Bomben abgeworfen. Hatte diese Maßnahme in erster Linie die Bahn und die lokale Industrie zum Ziel, so traf es auch umliegende Bürgerhäuser, das Vinzentinum, die katholische Arbeiterheimat und eben auch die inmitten des Bahnhofsviertels gelegene protestantische Kirche. 1951/52 wurde einige Meter nördlich des alten Kirchenstandortes eine neue Kirche aufgeführt, die heutige Christi-Himmelfahrtskirche.

Dieser Artikel erschien im FINK-Magazin vom Oktober 2014.
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